Kreuzberger Chronik
Juni 2019 - Ausgabe 210

Strassen, Häuser, Höfe

Gneisenaustraße 85


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von Werner von Westhafen

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Das Haus mit der Nr. 85 an der Gneisenaustraße ist ein uncheinbares Eckhaus mit einer Bäckerei an der Ecke zur Mittenwalder Straße, dem hohen Haupteingang neben dem Laden und einer zweiten, kleineren Tür zur Gneise-naustraße hin. Hier befand sich einst eine winzige Kellerwohnung, die nach dem Krieg von der Bauaufsicht geschlossen wurde.

Dort wohnte Frau Gewandt mit ihrem Sohn Karl-Heinz. Über ihnen, im Erdgeschoss, war eine Bügelei, daneben der Gemüseladen von Frau Lehmann. Sie hatte ihren Marktstand von der Halle in die Gneisenaustraße verlegt, als Bomben auch die Markthalle zerstörten.

Die Gneisenaustraße 85 war ein Haus mit einfachen Leuten. Während unten gearbeitet und verkauft wurde, ging es in den oberen Stockwerken ruhig zu. Da wohnten zwei alte Jungfern, die irgendwann »nach Ostpreußen wollten«, und von denen man nie wieder etwas hörte. »Angeblich sind sie mit der Gustloff in der Ostsee untergegangen!« Und dann wohnte da noch Doktor Steinweg, der Zahnarzt, einer der wenigen Ärzte, die es noch gab, seit die Nazis alle jüdischen Mediziner verschleppt hatten. Steinweg musste sich auch um die kränkelnden Jungfern kümmern, er wurde so etwas wie der »Feldscher« im Haus und versorgte die Verwundeten. Denn es war Krieg.

Am lautesten war die Dampfbügelei mit ihren schweren Gasbügeleisen. Bis spät in die Nacht konnte Karl-Heinz das Zischen der Eisen hören. Tagsüber kamen die Laufburschen mit den schweren Kleiderbündeln über ihren Schultern von den »Zwischenmeistern«, die in Heimarbeit gegen kleines Entgelt für die Schneidermeister Ärmel, Hosenbeine oder Futter annähten. In der Gneisenaustraße wurde für Schneidereien in der ganzen Stadt gebügelt.

Um die Ecke herum war die Putzmacherin Frau Reibetanz, die in der Mittenwalder Straße ihr Schaufenster mit Damenhüten hatte. Und an der Ecke, wo heute der Bäcker ist, war das Konfektionsgeschäft von Frau Knoop, das, so wie alle Berliner Kleiderläden, »Textileck« hieß. Die geschäftstüchtige Frau handelte mit Damen- und Kinderkonfektion, der kleine Karl-Heinz musste ständig Botengänge für sie erledigen, fuhr mit der Tram und dem Bus durch die halbe Stadt, um gut verschlossene Kuverts zu überreichen. »Dafür bekam ich dann ne Mark oder nen Apfel oder ein Päckchen Margarine, Weihnachten sogar ein Brot. Und Mutter hat sie mal ein neues Kleid geschenkt.«

Frau Knoop war eine elegante Erscheinung, die überall ihre Finger im Spiel hatte. Sie war mit dem Polizeichef befreundet und mit dem späteren Senator Klein, der zwei »große Jagdhunde hatte, die ich immer für ihn ausführen musste. Dafür gab´s zwei Mark!«

So hatte alles seine Ordnung im Haus, solange der Hausbesitzer auch dort wohnte. Der hieß Diemer, wohnte in der zweiten Etage und rief Karl-Heinz oft zu sich in die Wohnung, um ihm von seinen Boxkämpfen zu erzählen. Diemer hatte so viele Gegner zu Boden gehen lassen, dass er sich von den Preisgeldern sogar das Haus mit der Nummer 85 kaufen konnte. »Das war eigentlich ´n ganz vernünftiger Mann gewesen!«, und obwohl er nur die nötigsten Reparaturen ausführen ließ, fühlten sich die Bewohner wohl in seinem Haus. Erst als der Boxer verkaufte und eine Hausverwaltung die Geschäfte übernahm, zogen sie nach und nach alle wieder aus.

Auch Frau Knoop zog fort - da hatte Berlin im Grunde schon alles überstanden. Die Luftbrücke war längst beendet, da zog sie nach Konstanz an den See und eröffnete dort ein »Textileck«. Wer danach in ihren Laden zog, weiß Karl-Heinz Gewandt nicht mehr so genau.

Aber woran er sich noch genau erinnern kann, das ist die Geschichte mit dem Korbmacher, der im Erdgeschoss einzog, als die Bügelei auszog. »Das war son kleener Buck´liger, der mit niemandem redete«, und dessen Zimmer nur durch drei Stufen und eine hölzerne Tür vom Laden der Frau Lehmann getrennt war.

»Ich habe die Tür gut abgeschlossen, aber ich habe trotzdem das Gefühl, dass morgens etwas fehlt!«, sagte sie eines Tages zu Karl- Heinz und nagelte ein großes Blech vor die Tür. Als der Junge abends durch das Fenster in den Gemüseladen schaute, sah er, wie etwas von der Decke heruntersauste und dann wieder nach oben gezogen wurde. Als er genauer hinsah, erkannte er den Pfeil einer Harpune, der sich in die Kiste mit den Kartoffeln bohrte. Kartoffel für Kartoffel angelte sich der arme Korbmacher sein Abendessen durch die Spalte zwischen dem Blech und dem Türstock. Wie die Geschichte ausging, weiß Karl-Heinz Gewandt nicht mehr so genau, auf jeden Fall zog eines Tages der Uhrmacher Bremer neben Frau Lehmann ein.

Während die Bewohner an Hunger litten, nach und nach die Gneisenaustraße oder Berlin verließen oder mit der Gustloff untergingen, überstand das Haus den Krieg beinahe unbeschadet. Nur einige Fenster flogen raus, als am 3. Februar in der Nähe eine Bombe einschlug. Frau Gewandt lief mit ihrem Sohn zur Fliegerschadenstelle am Planufer, da saß im ersten Stock so ein »subalterner Beamter und empfing zwischen zwei Bombenangriffen die Leute«, deren Wohnungen kaputt waren. Er teilte ihnen Handwerker zu, Schreiner und Glaser, die Türen und Fenster ersetzten, vorrangig in den Wohnungen im Parterre und im ersten Stock: Man hatte Angst vor Plünderungen und Aufruhr! »Machen Sie sich keine Sorgen, da kommt schon jemand!« sagte der Beamte. Tatsächlich stand wenige Tage später »Franz vor der Tür«. Karl-Heinz Gewandt kann sich noch gut an den sympathischen Handwerker erinnern. Er hat die Geschichte einmal aufgeschrieben, sechzig Jahre später, zur Erinnerung an Franz. 4

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Um 1910, Gneisenau, Ecke Mittenwalder Str. - Dieter Kramer

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