Kreuzberger Chronik
Juli 2019 - Ausgabe 211

Geschichten & Geschichte

O ewich ist so lanck! (5):
Zimmers letzte Skulptur



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von Eckhard Siepmann

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Was, eine nackte Frau auf unserem Dreifaltigkeitsfriedhof? Und mit erschreckend ragenden Brüsten? Jawohl, und dann noch ein Fernseher, eine Flasche Wein, ein Auto, ein Ehemann und eine Birne... was man eben so zum Leben braucht. Eine große graue Steinskulptur auf der grünen Wiese, ziemlich einsam gelegen. Auf dem TV-Screen zwei Namen: HP und Vera Zimmer.

Die Gäste der Nazi-Olympiade 1936 hatten kaum die Stadt verlassen, da erblickte HP - Hans Peter - in Wilmerdorf das herbstliche Licht der Welt. Auf der Siegesallee, heute die Straße des 17. Juni, hielt Hitler große Paraden ab. »Wir Kinder rannten hin und sahen ihn in seinem braunen Mercedes stehen... Einige Zeit später hörte ich fast jede Nacht das Dröhnen der Bomber, das Krachen der Einschläge, das ohrenbetäubende Krachen der Flak.«

Mit 14 begeisterte sich HP für die Malerei von Emil Nolde. Mit dem Fahrrad fuhr er zu dessen Hof in Seebüll, sein Herzklopfen wuchs mit jedem Kilometer, und als er ankam, traute er sich nicht rein, drehte um und beschloss, selbst Maler zu werden. Sein Studium begann er in Hamburg bei Johannes Itten, einem früheren Bauhaus-Meister, der zur Esoterik neigte und die elterlichen Särge ausgemalt hatte. Schon ein Jahr später zog es ihn nach Süden, wo es wärmer und sinnenfroher war. In München lernte er drei junge malende Kommilitonen kennen, man stritt nächtelang über Kunst, Liebe und Leben und war so nah beieinander, dass eine Künstlergruppe entstand: SPUR. Das war im Sommer 1958, im Gasthaus Adler. »Wir diskutierten in Ateliers, Hausfluren, Berghütten, Straßenbahnen, Autos, auf Parkbänken, Brücken, zugigen Plätzen und Unterführungen, maßlos laut, wild gestikulierend, müde, besoffen, frierend, übererregt wie in Trance, wirklichkeitsfremd, ahnungslos und gerissen...« Künstlerisch praktiziert die Gruppe die informelle Malerei, die in den 50er Jahren in Mode war: Das abstrakte Bild wird nicht mehr geplant, sondern entwickelt sich im Verlauf einer spontanen, gestischen Malweise. SPUR verzichtet allerdings nicht auf figürliche Einsprengsel, das abstrakte Chaos spült immer wieder Tiergesichter oder Menschenaugen an die Oberfläche.

In einer Kneipe trifft HP eines nachts auf Dieter Kunzelmann, »einen feurigen, rotbärtigen Revoluzzer«, der in einem modrigen Kellerloch lebt und Marx und Marcuse liest. Er wird zum theoretischen Kopf der Gruppe, und schon bald kommt es zu Skandalen und Prozessen. Die Zeitschrift SPUR, die die Gruppe herausgab, erregte wegen »gotteslästerlicher und unzüchtiger Stellen« den Unmut des Amtsgerichts München I. Die Künstler, während des Prozesses untadelig in Schlips und Kragen, wurden zu 5 Monaten Gefängnis verurteilt. Erst eine spätere Instanz ermäßigte das Urteil auf 400 Mark Geldstrafe.

Die SPUR-Bürschchen wecken die Aufmerksamkeit der Situationistischen Internationale, einem Zusammenschluss europäischer anarchistischer Theoretiker, Architekten und Künstler mit höchsten intellektuellen Ansprüchen. Auf Konferenzen der Gruppe kann Kunzelmann mithalten, HP und Ehefrau Vera sitzen eher angespannt und schweigend dabei. Nach drei Jahren fliegt SPUR wieder raus, wegen Disziplinlosigkeit und Unverständnis der Thesen.

Mit dem weltweiten Siegeszug der Pop Art sahen sich die wilden Maler plötzlich ausgebootet. Wie wunderbar hatte man sich als Super-avantgarde gefühlt, und nun das! HP Zimmer hängte die Malerei vorübergehend an den Haken, und Kunzelmann wurde in Berlin zum Gründer der Kommunebewegung, zum Anstifter von militanten Aktionen und lustigen Happenings.

Als HP 1992 erfuhr, dass er einen unheilbaren Tumor im Kopf hatte, gab er seinen Studenten Skizzen zu seinem Grabmal: eine Art Lebensbaum mit dem Ehepaar Zimmer und Utensilien des täglichen Lebens. In den wenigen Monaten, die ihm noch blieben, lernte er in Kreuzberg einen Raumdichter kennen, einen Mann, der Gedichte nicht mit Buchstaben, sondern mit Raumdimensionen, Geräuschen und Alltagskrempel verfasste. Und der gerade dabei war, sich ein Raumgedicht mit dem Titel Nilpferd des höllischen Urwalds auszudenken. Es sollte im Martin-Gropius-Bau präsentiert werden und von den Situationisten, der Gruppe SPUR und der Kommune 1 handeln. Als von einer Gruppe verspäteter Situationisten eine Bombendrohung eintraf, verlegte der Dichter die Sache in die Parterre-Wohnung eines Freundes mit Messie-Syndrom in der Heimstrasse. Zwischen Kostbarkeiten und Gerümpel, das fast bis an die Decke reichte, liefen lebende gackernde Hühner herum und legten Eier – eine ideale Umgebung für das geplante Vorhaben. HP Zimmer war voller Enthusiasmus für dieses Projekt und derart begeistert, dass er es nicht nur mit einer großen Geldsumme unterstützte, sondern für alle Zeit in der Nähe ruhen wollte! Zum ersten Mal, so sein Urteil, werde die Sache, um die es ihm ging, angemessen dargestellt.

Eine Blues-Band, zusammengestellt aus Musikern der damaligen Jazzkneipe Bebop in der nahegelegenen Willibald-Alexis-Straße, führte bei seinem Begräbnis den Trauerzug an. Kunzelmann verbarg seine Tränen hinter einer dicken Sonnenbrille. Die Lebensbaum-Skulptur war fertiggestellt und gefiel allen – außer der Ehefrau Vera. Missbehagte ihr die dargestellte Gattin? Jedenfalls ließ sie alsbald eine hohe Hecke rund um das Grab wachsen. Als sie schließlich selbst an der Seite ihres Ehemanns bestattet war, sorgte Tochter Nina für die Freilegung der Skulptur, und das wird ihr jeder kunstverständige Friedhofsbesucher danken. •

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