Kreuzberger Chronik
Dez. 2019/Jan. 2020 - Ausgabe 215

Geschichten & Geschichte

O ewich ist so lanck! (9):
Marie Seebach - Heroine und Wohltäterin



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von Eckhard Siepmann

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Wer den alten Teil des Dreifaltigkeitsfriedhofs II Richtung Süden verlässt und den Blick gen Himmel richtet, übersieht schwerlich einen rostbesetzten Engel in den Lüften, über dem Portraitrelief einer klassisch schönen Frau schwebend. Ihr Haupt schmückt ein bronzener Lorbeerkranz, die Augen blicken in eine ferne Zukunft und das Dekolleté wird von einem steinernen Schleier leicht umspielt. In der Erde darunter zerfallen allmählich die Knochen einer Schauspielerin, die im 19. Jahrhundert auf den großen Bühnen Europas mit tosendem Applaus und Blumen überschüttet, die von ihren Fans auf Sänften getragen und mit nächtlichen Fackelzügen geehrt wurde.

Als Marie Seebach 1829 das Licht der Welt erblickte, umringten Theatergrößen ihre Wiege: Nicht nur die Eltern waren Schauspieler, auch ein Großvater und eine Tante. So standen Marie und ihre jüngere Schwester auf der Bühne noch bevor sie das ABC erlernten.

Maries Leben sollte zu einer von Beifallsstürmen umrahmten Tragödie werden. Ihre Mutter, die sie während eines Gastspiels in Lettland geboren hatte, starb, als Marie 7 Jahre alt war, und ihr einziges Kind, Sohn Oskar, erlag mit 32 Jahren der Schwindsucht. Im Liebesleben der Heroine türmten sich Enttäuschungen und Schicksalsschläge aufeinander, als wäre ihr Leben selbst ein geschriebenes Drama. Die Männer, die sie liebte, täuschten und verließen sie.

Sehnlichster Wunsch der jungen Marie war es gewesen, Opernsängerin zu werden. Aber schon bald erweist sich ihre Stimme als zu schwach für dramatische Sopranpartien, und so beginnt sie siebzehnjährig, Schauspielunterricht zu nehmen. Mit neunzehn hat sie ihr erstes Engagement, sechs Jahre später liegt ihr das deutsche Bühnenpublikum zu Füßen. »Endlich der Ton einer tragischen Liebhaberin, der schmerzlich-süße Nachtigallenton – der ganze Körper der Seebach nimmt ersichtlich teil an allen Bewegungen der Seele«, jubelt die Kritik.

1869, nach ihrer Scheidung von einem untreuen Heldentenor, verlässt Marie Berlin, wo sie immer wieder gewohnt hat. Enttäuscht von Liebe und Leben beginnt sie für zwei Jahrzehnte eine rastlose Bühnentour - von Amsterdam bis nach St. Petersburg. Wohin sie kommt – Publikum und Kritik feiern sie hingerissen. Sogar »die Marktweiber«, schwärmt ein Bewunderer, »vergessen, ihre Fische aufzuschneiden, weil sie »die herrliche Seebach« loben müssen, und eine Fischverkäuferin mit glänzend roter Nase deklamierte, während sie einen Karpfen köpfte: Bin weder Fräulein, weder schön


Schließlich drängt es sie aus Europa hinaus. Mit einer eigens für sie gegründeten Theatercompagnie besteigt sie den Dampfer nach Amerika. In einem Orkan droht das Schiff unterzugehen, dann läuft es auf eine Sandbank auf, und im Maschinenraum bricht ein Brand aus. Doch noch am Abend ihrer Ankunft in New York tritt sie auf, tourt durch 17 Städte: Ovationen und Blumen, wo immer Marie gastiert.

Ihre Paraderolle ist das Gretchen in Goethes Faust. Eine Ahnung von dem Geheimnis ihrer Schauspielkunst vermittelt ein aufmerksamer Beobachter der Gartenszene, in der sie das Erwachen der Liebe in Ton und Miene »mit herzlich-schüchterner Innigkeit zur Anschauung brachte. Gewöhnlich begleiten die Darstellerinnen die Worte Er liebt mich! mit einem lauten Jubelruf. Die Seebach hingegen flüsterte diese Worte, wobei ein freudiges Beben ihren Körper erfasste, schüchtern, als wolle sie die innere Seligkeit sich selbst nicht verraten.«

Als sie die 40 überschritten hat, steht ihr die Rolle der jugendlichen Liebhaberin – Margarethe, Ophelia, Käthchen von Heilbronn, Julia – nicht mehr an. Und als ihr das Rollenfach der komischen Alten angedient wird, ist sie entsetzt und drauf und dran, die Schauspielerei aufzugeben. Mit Goethes Stella findet sie noch einmal eine Rolle, in der sie Lebensreife und herbe Liebeserfahrung zur Geltung bringen kann – die von Männern enttäuschte Stella wird zu einer Schwester im Geiste. Der Abstieg aber war unaufhaltsam. Fontane ätzte: »Eine fatale Frau, die sich verzerrten Gesichts durch die Gänge schleppt.«

An einem trüben Märztag 1894, beim Nachdenken über eine sinnvolle Verwendung des Kapitals, das die üppig honorierte und bescheiden lebende Starschauspielerin ihrem inzwischen verstorbenen Sohn vermachen wollte, überquert Marie unaufmerksam eine Straße. Als ein schneller Pferdewagen auf sie zufährt, bleibt sie erschreckt stehen, der Kutscher reißt die Pferde zur Seite – zu spät: Die Tragödin wird überfahren, beide Beine geraten unter ein Rad und brechen. Aber schon im Oktober brilliert Marie wieder auf den Brettern des Königlichen Schauspielhauses am Gendarmenmarkt.

Nichts von all dem Unglück ahnen Maries demenzkranke Kolleginnen und Kollegen, die auch am Weihnachtsabend 2019 wieder zum Bastelabend in einem Heim für verarmte Künstler in Weimar zusammenkommen werden. Die Seebach hat ihr gesamtes Vermögen einer Stiftung vermacht, die bis heute bedürftigen und erkrankten Schauspielern, Sängerinnen und Musikern Obdach und Pflege bietet.

Das Leben der Schauspielerin endet in St. Moritz im Engadin, wo sie 1897 mit 68 Jahren einer Lungenentzündung erliegt. Ihr Leichnam wird an der Bergmannstraße bestattet. Die einst hochverehrte Mimin ist in Vergessenheit geraten, und auch dieses Wortkränzchen für Marie wird bald verwelken, und so geben wir, die Nachwelt, Friedrich Schiller seufzend recht: »...schnell und spurlos geht des Mimen Kunst / Die wunderbare, an dem Sinn vorüber...« Einzig der großgeflügelte eiserne Engel hoch über ihren verweslichen Knochen wird noch lange Zeit stumm die Heroine vergangener Tage rühmen. •

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