Kreuzberger Chronik
Oktober 2018 - Ausgabe 203

Geschichten & Geschichte

Das Chamissoplatzfest


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von Horst Unsold

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Vom Beginn der Kreuzberger Straßenfeste

Der Krieg war vorüber, allmählich kehrte Leben ein in die Ruinen, sogar Feste wurden wieder gefeiert. Sogar die Neuköllner Maientage, heute Berlins größtes Parkfest, fanden auf den Wiesen der Hasenheide wieder statt, und 1949 wurden im Viktoriapark die Kreuzberger Festlichen Tage eröffnet, deren Hauptattraktion für die noch immer hungernden Berliner neben den üblichen Vergnügungsbuden die Lebensmittelstände waren.

Über den Festen lagen noch die Schatten des Krieges, sogar die Straßenfeste der Siebzigerjahre waren noch vom Krieg gezeichnet. Sie waren eher politische Veranstaltungen als weinselige Feste, ihr Thema war die Sanierung der zerstörten Stadt und die Erhaltung des traditionellen Wohnraums. 1969 veranstaltete die Emmaus-Gemeinde ein erstes Straßenfest unter dem Motto »Viele reden über Kreuzberg – wir leben hier«. Anstecknadeln mit der Aufschrift »I like 36« verkauft wurden. Am 1. Mai 1972 folgte das erste große Straßenfest auf dem Mariannenplatz, auf dem die Besetzung des ehemaligen Schwesternwohnheims der Diakonissenanstalt Bethanien mit dem »Rauchhaussong« der Band Ton Steine Scherben gefeiert wurde.

Auch das Mieterfest auf dem Chamissoplatz am 14. August 1977 stand im Zeichen der behutsamen Stadterneuerung. Ins Leben gerufen vom Planungsbeauftragten des Bezirksamts, warb der Bezirk mit Infoständen zum Sanierungsgeschehen. Vor dem Hintergrund der konfliktreichen Baupläne in SO 36 wollten die Behörden Transparenz zeigen. Doch auch am Chamissoplatz reagierten die Anwohner besorgt und gründeten den Mieterrat Chamissoplatz, der von nun an auch die Planung des Straßenfestes übernahm. Das Ziel des »Politfestes« war es, das soziale Miteinander der Mieter zu stärken und eine linke Gegenöffentlichkeit zu schaffen.

Chamissoplatzfest: Wasserturm 2005

Der politische Charakter des Chamissoplatzfestes wurde noch stärker, als das Fest am 15. August 1981 zum Schauplatz des Berliner Häuserkampfs wurde. Während nachmittags auf dem Chamissoplatz etwa 1500 Menschen feierten, durchsuchte die Polizei nur 200 Meter entfernt das Besetzercafé Crautscho in der Willibald-Alexis-Straße 42, das als Zentrale des unmittelbar bevorstehenden TUWAT-Kongresses der linksalternativen Szene diente, und räumte eine frisch besetzte Wohnung in der Willibald-Alexis-Straße 10. Der Polizeieinsatz, der zu vier Festnahmen führte, sprach sich rasch auf dem nahen Chamissoplatzfest herum. Daraufhin zogen einige Dutzend Festteilnehmer spontan zur Polizeiwache in der Friesenstraße, um die Freilassung der festgenommen Besetzer zu verlangen. Die Polizei reagierte hierauf mit einem massiven Einsatz und drängte die Demonstranten zum Chamissoplatz zurück. Nach der Errichtung einer Barrikade an der Kloedenstraße löste die Polizei das Chamissoplatzfest am Abend unter Einsatz von Schlagstöcken und Tränengas auf. Den Schlusspunkt des Polizeieinsatzes bildete die nächtliche Erstürmung und Räumung der Kneipe Heidelberger Krug, in die sich zahlreiche Festveranstalter und Besucher zurückgezogen hatten.

Die Eskalation der Veranstaltung manifestierte den Ruf des Chamissoplatzfestes als Politfest. Auf dem Programm standen politisches Kabarett, Rockbands, Jazzbands, eine Liedermacherin, ein Fußballturnier, Bauchladentheater, Kinderkino und Dia-Shows zur Entwicklung des Sanierungsgebiets und zur Friedenssicherung in der Backstube, eine Ausstellung zum Jugendalltag in Kreuzberg 1933 in der Galerie am Chamissoplatz und Filmvorführungen des Arbeiterfilm-Klassikers »Kuhle Wampe« (1932) im Arbeitslosenladen. Zahlreiche Imbissstände dienten der Bewirtung. Das Biermonopol behielt der Mieterladen sich selbst vor. 30 Pfennig von jedem Bier, das einheitlich für 2,80 DM verkauft wurde, sollten zum Bau eines Jugendzentrums mit Gemeinschaftssaal in San Rafael del Sur in Nicaragua verwendet werden. Das alkoholische Vergnügen diente der internationalen Solidarität.

Doch nicht alle hielten sich an das Biermonopol. Fliegende Händler mischten sich unter die Stände und verkauften Getränke ohne den Solibeitrag zu entrichten. Unmut erregten auch jene Händler, die unter Nennung falscher Aktivitäten Stände anmieteten, um Kunsthandwerk zu verkaufen. Um diese zunehmende Kommerzialisierung des Festes aufzuhalten, wurde die Zahl der Stände 1986 auf 25 reduziert, kommerzielle Unternehmen waren tabu. Doch es wuchs Widerstand gegen den Widerstand, schon ein Jahr später hieß es in der Einladung zum Fest, das nun im Rahmen der zweiwöchigen »Kulturtage am Chamissoplatz« stattfand und sich damit wieder in der Hand des Bezirks befand: »Nur wer feste feiern kann, kann auch erfolgreich kämpfen!«

So drängte das Angebot an Speisen, Getränken und Kunsthandwerk die Infostände mehr und mehr zurück. Der Mieterrat sei nur noch als Dienstleister gesehen worden. Und während die Mieterschaft anfangs noch beim Auf- und Abbau geholfen habe, habe der Mieterrat später die Straßen alleine saubermachen müssen, als die anderen bereits in der Kneipe gesessen hätten.

Seit 1999 findet kein Fest mehr statt auf dem Chamissoplatz. Lediglich während des Jazzfestes in der Bergmannstraße werden an einem Wochenende zwei Zelte aufgeschlagen, in denen Kreuzberger Spitzenköche an Biertischen zum Essen einladen. Ein letztes Relikt aus den vergangenen Zeiten des Chamissoplatzfestes. •

Literaturnachweis: Hanno Hochmuth, »Kiezgeschichte - Friedrichshain und Kreuzberg im geteilten Berlin«, Wallstein Verlag 2017, ISBN 978-3-8353-3092-4

Relikte des Chamissoplatzfestes: Wasserturm 2005


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