Kreuzberger Chronik
Mai 2018 - Ausgabe 199

Strassen, Häuser, Höfe

Engeldamm 62-64


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von Werner von Westhafen

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Es gibt Hobby-Historiker, die glauben, der Engeldamm habe seinen Namen nach der ehemaligen Engelschen Wachstuchfabrik erhalten, die sich in der Nähe befand. Glaubwürdiger ist die Meinung, dass die Straße, die vom Engelbecken aus dem eleganten Bogen des Luisenstädtischen Kanals folgte, ihren Namen dem alten Wasserbecken verdankt. Dafür spricht auch, dass der Damm zu jener Zeit, als noch Schiffe auf dem Kanal verkehrten, Engelufer hieß. Erst 1937, viele Jahre nach der Trockenlegung des unrentablen Wasserweges, wurde die ehemalige Uferstraße zum Damm erhoben.

Schon bei der Anlage des Kanals entstanden entlang der Ufer einige stattliche Wohnhäuser für vornehme Herrschaften, doch als im Jahre 1900 am Ende des Bogens das Gewerkschaftshaus entstand, war die Öffentlichkeit von seiner Größe überwältigt und machte es schon bald zur »roten Burg am Engelufer«. Begeistert schrieb der sozialdemokratische Vorwärts von dem Kontrast des Bauwerks zu dem »öden Grau trostloser Mietskasernen, keck erhebe sich »der rote Ziegelsteinbau in die Lüfte.«


Das Gewerkschaftshaus 2018
Auch wenn die Poesie den Autor hier derart beflügelte, dass er die Bodenhaftung verlor: Grund zum Jubilieren gab es. Das Haus mit den heutigen Nummern 62-64 war nicht nur das erste Gewerkschaftshaus in Berlin, sondern das erste in Deutschland überhaupt, das die Gewerkschaft selbst geplant und errichtet hatte. Lediglich ein Jahr hatten die mit 60 Pfennigen Stundenlohn gut belohnten Arbeiter gebraucht, um das Gebäude mit Türmchen und Zinnen, mit Torbögen, den Büros, zwei Läden und einem Restaurant im Erdgeschoss zu bauen. Hinter dem Vorderhaus lag der Hof, in dessen Mitte ein gewaltiger Baum Schatten spendete, im Quergebäude befanden sich »ein großer und einige kleinere Säle und Vereinszimmer« für Versammlungen, Vorträge, Bildungsseminare und Ausstellungen. In einem zweiten Quergebäude gab es eine Herberge mit 200 Betten, Badeeinrichtungen und einer Teestube für die Arbeiterklasse. Die Berliner Illustrierte Zeitung kommentierte die Einrichtung für die »wegmüden, fremden« Wandergesellen und Gastarbeiter mit »großem Respekt«, sogar eine Kegelbahn stand den Gästen am Abend zur Verfügung, falls sie nicht vom vielen Arbeiten schon zu müde waren.

Auch die Sozialdemokratische Reichstagsfraktion kam, um das Haus, von dem so viel gesprochen und geschrieben wurde, zu begutachten, und war voll des Lobes. Die Professoren schickten ihre Studenten zum Engelufer, um die Nutzungsmöglichkeiten eines solchen Bauwerks zu studieren, der damals weltberühmte Schriftsteller Anatole France reiste eigens aus Frankreich an, um das Haus zu besichtigen, ebenso wie der Präsident des Preußischen Herrenhauses. Lediglich die stets um ihre Souveränität besorgte Preußische Regierung konnte sich mit der »roten Burg am Engelufer« nicht richtig anfreunden. Als der Hamburger Lehrerverein im Haus am Engelufer eine Ausstellung über Jugendbuchliteratur eröffnete, untersagte sie den Berliner Lehrern einen Besuch.

Das Gewerkschaftshaus 1918
Dreißig Jahre später war die Rote Burg den Nazis ein Dorn im Auge. Am 1. Mai 1933 schrieb Goebbels in sein Tagebuch: »Morgen werden wir nun die Gewerkschaftshäuser besetzen. Widerstand ist nirgends zu erwarten.« Tatsächlich überließen die einst so kämpferischen Gewerkschaftler den Truppen der SA das Terrain nahezu kampflos. Zur Enttäuschung aller echten Sozialdemokraten. Wo einst für die Rechte von Arbeitern gekämpft wurde, kämpfte nun die »Deutsche Arbeitsfront« der Nazis.

Doch dem Krieg hielt die Burg stand, lediglich ein Seitenflügel wurde getroffen, weshalb die sowjetische Militärverwaltung das Gebäude mit seinen vielen Sälen und Zimmern in ein Krankenhaus verwandelte. Einige Jahre später lag dieses Krankenhaus in einem anderen Land - östlich der Berliner Mauer. Und wiederum einige Jahre später erlitt das Städtische Krankenhaus am ehemaligen Engelufer das gleiche Schicksal wie das Krankenhaus Bethanien erst wenige Jahre zuvor: Es wurde geschlossen.

Für eine gewisse Zeit nutzte das Landesinstitut für Tropenmedizin das Haus, und Mitte der 90er wurde Berlins größte Aids-Beratungsstelle am Engeldamm eingerichtet. Dann aber verkaufte der Berliner Liegenschaftsfonds auch dieses denkmalgeschützte Gebäude an Münchner Investoren, die »hochwertige Eigentumswohnungen« und »eine Tiefgarage mit 53 Stellplätzen« einbauten. Das Haus am Ufer, das einst Gastarbeitern und Wandergesellen als Herberge diente, und in dem Willy Seydlitz sein Restaurant mit günstigem Mittagstisch betrieb, dient heute nur noch wenigen Privilegierten. •

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