Kreuzberger Chronik
Mai 2018 - Ausgabe 199

Geschichten & Geschichte

Alwin Brandes


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von Werner von Westhafen

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Alwin Brandes1949 erscheint bei Arani in Berlin ein kleiner Band mit Lobreden auf Alwin Brandes. In der schmalen Festschrift erinnert ein Augenzeuge an den 2. Mai 1933, jenen Tag, der die Organisation der Gewerkschaften mit einem Mal zerschlug und die idealistischen Vorstellungen von der Arbeiterklasse wie Seifenblasen zerplatzen ließ. In der Hauptverwaltung des Metallarbeiterverbandes in der Alten Jakobstraße herrscht eine »gedrückte Stimmung, gegen zehn Uhr fahren einige Lastwagen vor, das Haus wird umstellt, Kommandos ertönen, und in wenigen Minuten ist das ganze Haus mit SA-Leuten besetzt. Den Revolver oder den Totschläger in der Hand stürmen sie über Treppen und Gänge und in die einzelnen Zimmer. (...)

Ein Bild, das um die Welt ging: Nazis besetzen das Gewerkschaftshaus am Engeldamm
Zur Mittagszeit wurden alle im Großen Sitzungssaal zusammengerufen, einer der Uniformierten stellte sich als der neue Führer des Metallarbeiterverbandes vor. (...) Alle Angestellten sollen an ihren Plätzen verbleiben und unter der neuen Führung weiterarbeiten. Der Vorstand aber sei verhaftet und werde zur Verantwortung gezogen. Als wir den Saal verließen und am Zimmer des 1. Vorsitzenden, Alwin Brandes, vorbeikamen, steht dort ein brauner Posten. Die Tür ist geöffnet, und in der Mitte des Raumes steht Brandes. Man wollte uns offenbar das demütigende Schauspiel eines Mannes am Pranger bieten. Es kam anders. Der erste, der an der offenen Tür vorbeikam, trat an dem braunen Posten vorbei auf Alwin Brandes zu und drückte ihm die Hand. Die nächsten folgten seinem Beispiel, und so defilierten über 200 Mitarbeiter, Sekretärinnen, Stenotypistinnen und Putzfrauen an dem verdutzten Uniformierten vorbei, gaben ihrem Chef die Hand und verließen schweigend den Raum.«

Es gelang Brandes, Schreibmaschinen, Vervielfältigungsgeräte und seinen Kopf vor den Nazis zu retten. Aber es dauerte nicht lange, da stand er vor Gericht. Zunächst trat er als Zeuge für seine ehemaligen Mitarbeiter auf, die von den Nazis entgegen der ursprünglichen Ankündigung fristlos und ohne Zahlung des ihnen zustehenden Restgehaltes entlassen wurden. Sogar die von ihnen eingezahlten Rentenbeiträge wurden aus ihrem Konto gelöscht und nicht zurückgezahlt. Einige Monate später jedoch trat er als Angeklagter vor Gericht. Sein hartnäckiges Engagement für die betrogenen Mitarbeiter hatte die Aufmerksamkeit der Gestapo auf ihn gelenkt. Man unterstellte ihm, die verbotenen Gewerkschaften zu Untergrundorganisationen umfunktionieren zu wollen. 1934 landete Brandes im KZ Oranienburg.

Alwin Brandes´ Lebensweg vom »gelernten Arbeiter zum höchsten Ehrenamt im Staate« ist eine Bilderbuchbiographie. 1866 als Sohn eines Schlossers und der Tochter eines Wachstuchfabrikanten in Großschönau im »Lausitzer Gebirge geboren«, muss er während des preußisch-österreichischen Krieges mit der Familie nach Halle flüchten, wo
er an der Cholera erkrankt, die bereits drei seiner Geschwister das Leben gekostet hat. Von Halle zieht die Familie nach Quedlinburg in den Harz, wo der Vater beim Bau von Zuckerrübenfabriken Arbeit findet. Über Helmstedt und Ottersleben ging es weiter bis nach Magdeburg, wo Alwin als Schlosserlehrling 14 Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche arbeitete. Es ware die Jahre des industriellen Aufschwungs, zwischen 1882 und 1907 steigt die Zahl der Metallarbeiter von 85.000 auf 440.000, das Eisenbahnnetz dehnt sich von 4.000 auf 12.000 Kilometer aus. Aber auch der Widerstand der Arbeiter wuchs.

Der junge Brandes schloss sich der Arbeiterbewegung an, die für kürzere Arbeitszeiten, bessere sanitäre Einrichtungen und höhere Löhne kämpfte. 1890 trat er dem Deutschen Metallarbeiterverband bei, mit 35 sitzt er in der Magdeburger Stadtverordnetenversammlung, 1918 wird er Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrates, 1919 wird er zum ersten Mal ins Gefängnis gesteckt. Er soll an einem Putschversuch beteiligt gewesen sein.

Doch Brandes ist ein begnadeter Redner, insbesondere, wenn es um seine Verteidigung geht. Immer wieder gelingt es ihm, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Auch 1934, als ihn die Nazis nach dem Überfall auf die Gewerkschaftshäuser ins KZ stecken, vermag er, das Gericht für sich einzunehmen. Man »kann in dem Eintreten von Brandes für seine Kollegen zugunsten ihrer Altersbezüge keine Konspiration gegen die Staatsgewalt« sehen und lässt ihn wieder frei.

Doch wirklich frei ist der ehemalige Gewerkschaftschef in diesen Jahren nicht. Täglich muss er auf dem Revier erscheinen, sich verhören lassen. Die Gestapo lässt ihm keine Ruhe. 1936 wird er zum zweiten Mal verhaftet, den 70ten Geburtstag feiert er im Untersuchungsgefängnis von Dresden. Im Oktober 1937 beantragt der sogenannte Reichsanwalt in Anbetracht des hohen Alters des Angeklagten lediglich fünf Jahre Zuchthaus und Ehrverlust. Nach einer leidenschaftlichen, halbstündigen Verteidigungsrede des Angeklagten erfolgt am 6. Verhandlungstag vor dem Volksgerichtshof sogar ein Freispruch.

Nach dem Scheitern des Hitlerattentates im Juli 1944 gerät Brandes, der mit Leuschner gut bekannt war, abermals ins Visier. Noch einmal rettet ihn sein hohes Alter vor dem KZ. So überlebt Brandes das Hitlerregime und kämpft auch nach dem Krieg in der sowjetischen Besatzungszone weiter für die Rechte der Arbeiter. Bis zu seinem Tod bekleidet er die veschiedensten Ämter und fehlt auf keiner Gewerkschaftssitzung. Er stirbt im Alter von 83 Jahren noch im selben Jahr, als bei Arani die kleine Festschrift zu seinem Geburtstag erscheint.

Es ist nur eine kleine, unbedeutende Sackgasse zwischen der Lindenstraße und dem Mehringplatz, die seit 1971 seinen Namen trägt: Einen Namen, der selbst den Nazis Respekt einflößte. •

Ein Bild, das um die Welt ging: Nazis besetzen das Gewerkschaftshaus am Engeldamm


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