Kreuzberger Chronik
Dez. 2018/ 2019 - Ausgabe 205

Strassen, Häuser, Höfe

Schleiermacherstraße 7


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von Horst Unsold

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Auch Besucher, die das Haus mit der Nummer 7 nur vom Hören-Sagen kennen, werden es nicht verfehlen. Man erkennt es schon von weitem an dem üppigen grünen Dschungel, der dem kleinen Vorgarten aus dem 19. Jahrhundert entsteigt. Der Wein, der dort wächst, ist schon bis in den dritten Stock geklettert und hat die Mauern der Nachbarhäuser mit den Nummern 6 und 8 erklommen. Die Besitzer der 6 freuten sich über das viele Grün, die der Nummer 8 brachen in Entsetzen aus und ließen es ausreißen.

»Das alles hier ist mein Werk!«, sagt ein langer Mann, dessen Kopf aus den Blumen, Stauden und Bäumchen ragt und der die Gartenschere in die Höhe hebt. Manchmal kommen die Gäste mit dem Gärtner ins Gespräch, dann führt er sie durch das Treppenhaus mit den alten, bunten Glasfenstern und dem knarrenden Holzgeländer durch eine kleine, ein bisschen geheime Tür bis hinauf aufs Dach, wo sich, hoch über der Stadt, auf den Seitenflügeln zwei Gärten mit Wiesen, Blumenbeeten und Kräutern, mit Tischen, Stühlen und Sonnenschirmen, allem Zubehör eines Schrebergartens ausbreiten. Eine schmale Brücke führt, höher als die Wipfel des alten Ahorns, über die Schlucht des engen Hofes von einem Garten zum anderen.

Dass hier oben auf dem Dach einmal Menschen sitzen und Wein trinken würden, hatte sich Herr Urban kaum vorstellen können, als er 1882 ein großes Grundstück an der Schleiermacherstraße kaufte und drei Mietshäuser baute, deren Fassaden er mit Stuck, imposanten Portalen und einer breiten Treppe zur Beleetage schmückte. Schon damals pflegte ein Gärtner das kleine Stück Grün vor dem Haus, der Wein allerdings ist Jahrgang 1985. Er wurde gepflanzt, als eine Gruppe junger Leute mit der Sanierung des Hauses begann. Es war ein Glück für die Nummer 7, dass kein Architekt unter den jungen Leuten war, die hier einziehen wollten. Architekten haben ganz andere Ideen, sie wären nie auf den Gedanken gekommen, Dachgärten anzulegen und anstatt einer Feuerleiter an der Hauswand eine Brücke zum anderen Gebäudeflügel zu schlagen, um die Auflage des Notausgangs zu erfüllen. Es war eine Schnapsidee, spätabends beim Wein im Hof.

Die Einwohner der Nummer 7 gehörten zu den letzten, die zur eigenhändigen Sanierung ihres Wohnhauses staatliche Fördermittel erhielten. Gerhard Oschmann, die silbergraue Eminenz des Hauses, bewahrt in einem Aktenordner noch einen Zeitungsartikel vom 27. März 1985 auf. Da heißt es in der Überschrift: »Senat kürzt Mittel für Altbausanierung!«, und »Mindestens 1000 Wohnungen stehen im Bezirk Kreuzberg leer!« Tatsächlich hatte der Senat angekündigt, »jährlich rund 5000 Altbauten abreißen zu lassen.« Die alten Häuser waren den Bauunternehmern im Weg, auch Privatbesitzer begannen zu spekulieren und ließen niemanden mehr einziehen, um ihr Haus »zum Abriss vorzubereiten«. Der Kreuzberger Baustadtrat Werner Orlowsky, der sich für eine behutsame Stadterneuerung durch die Selbsthilfe-Projekte der Mieter eingesetzt hatte und gegen »Subventionen an Großbanken, Wohnungsbaugesellschaften und Spekulanten« war, sprach von systematischer Entmietung und falscher Politik. Denn die Neubauten waren für Kreuzberger zu teuer, laut Orlowsky standen allein bei der BeWoGe am Kottbusser Tor 170 neu gebaute Wohnungen leer.

»Wir haben Glück gehabt!«, sagt Oschmann. Aber ein bisschen mutig waren sie auch, all jene, die es damals wagten, ein Haus in West-Berlin zu kaufen, in einer von Russen eingeschlossenen Stadt! Oschmann störten die Kommunisten nicht. Stapelweise lagen die Angebote auf seinem Tisch, Häuser im Wedding, in Kreuzberg und Neukölln, für 300.000, 400.000 D-Mark. Das in der Schleiermacherstraße gefiel ihm, »da herrschte noch ein bisschen Gründerzeitatmosphäre.

Aber nun standen wir da und wussten nicht, wie weiter.« An dem Haus musste viel gemacht werden. Also suchten sich Oschmann und seine Frau Leute, die mit einzogen, zu Miteigentümern wurden und mitarbeiteten an Haus und Hof und Dach und Garten. Natürlich gab es Streit in all diesen Jahren. Einige sprangen ab, bis vors Gericht und bis ins 21. Jahrhundert trug man die Auseinandersetzungen. »Das bleibt nicht aus, wenn so viele verschiedene Menschen gemeinsame Entscheidungen treffen müssen.« Aber irgendwann waren sie fertig mit dem Haus. Oschmann machte die Elektrik, das hatte er einmal gelernt. Ein Tischler kümmerte sich um das Treppenhaus, »der hat da viel, viel Zeit und Liebe reingesteckt und das ganze, hundert Jahre alte Geländer wieder restauriert.« Sie haben sogar einige der großen Wohnungen, die nach Ablauf der goldenen Zwanzigerjahre geteilt worden waren, wieder zu klassischen Wohnungen mit Berliner Zimmer zusammengelegt. Der Hof war ein einziger Schutthaufen, »wir haben einen Lkw voll Dreck abtransportiert und im Hof einen Spielplatz gebaut.« Für die Kinder, die sie dann alle bekamen. Eine Zeit lang spielten sieben oder acht Kinder in dem kleinen Hof hinter dem Haus.

Ausziehen jedenfalls möchte jetzt niemand mehr. Auch wenn es hin und wieder Ärger gibt. Und Oschmann in den Augen seiner Mieter manchmal knausrig ist, wenn es um Reparaturen geht. »Vor zehn Jahren ist mal einer ausgezogen!«, sagt Oschmann. »Der zog weg.« Ansonsten ist die Miete hier einfach zu günstig. »Weil meine Frau, die Angela und ich, wir sind der Meinung, dass man nicht von seinem Haus leben sollte, sondern von seiner Arbeit.« So ein Haus sei doch kein Kapital, das man so einfach für sich arbeiten lassen könne.

Das wäre mit der Philosophie dieses Hausbesitzers, dessen Worte und dessen Bart plötzlich deutlich an Karl Marx erinnern, nicht vereinbar. »So ein Haus, das muss allen gehören, die darin wohnen.« •

Marco Saß
Foto: Archiv Marco Saß


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