Kreuzberger Chronik
Oktober 2017 - Ausgabe 193

Strassen, Häuser, Höfe

Die Heimstraße 1


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von Werner von Westhafen

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Es war eines der ersten Häuser in der Straße.


Die Nummer 1, ganz unten, am Anfang der Straße, ist eines der letzten Häuser Kreuzbergs, das noch den grauen Nachkriegsputz trägt. Doch anders als hinter den meisten der restaurierten Fassaden aus dem 19. Jahrhundert verbirgt sich hier tatsächlich noch ein Stück Vergangenheit. Der Flur hinter der riesigen Haustür trägt noch die alte Holzvertäfelung, die »Haustafel« im schwarzen Rahmen hält für die Mieter noch immer die wichtigsten Telefonnummern fest, »Überfall, Rettungsamt, Feuerwache, Krankenhaus, Schirmbild, Tuberkulose, Zahnarzt, ..., Sozialwesen, ..., Schulamt,..., Altersheim«... Sogar die wichtigsten Geschäfte in der Gegend hat der Hausherr für seine Mieter im Flur aufgelistet, darunter den Frisiersalon von Loni Krause in der Zossener Straße 19, die Bäckerei Teichert in der Bergmannstraße 19, das Radio- und Elektrohaus in der Fidicinstraße 15, das Krawattenhaus in der Zossener Straße 28, Futtermittel Skambraks in der Friesenstraße 11 und Tabakwaren und Leihbücherei Kreuzberg von Gertrud Wittig in der Willibald-Alexis- Straße 4. Keines davon ist erhalten geblieben.

Foto: Dieter Peters
Eine Treppe weiter weist auch heute noch ein Schild auf der knarrenden Stufe darauf hin, dass frisch gebohnert ist, und die alten Klingeln hören sich noch so schrill und laut an wie in den Schwarz-Weiß-Krimis der Sechzigerjahre. Die Nummer 1 ist auch eines der letzten Häuser, in dem noch Kachelöfen Wärme und Behaglichkeit verbreiten. Wenn der Wind auf Norden dreht, dann weht es diesen Geruch qualmender Schornsteine, der bis zum Fall der Mauer noch über ganz Berlin lag, die Kopfsteinpflasterstraße hinauf bis zu den alten Kasernen. Doch auch in der Heimstraße Nummer 1 sind die cremefarbenen Eckensteher in vielen Wohnungen längst den schnöden Heizkörpern zentraler Allerweltsheizungen gewichen, und so geht auch hier allmählich ein Stück Berliner Identität verloren. Was die meisten Bewohner des Hauses eher gelassen sehen: Nach dreißig Jahren können viele der Altmieter auch gern auf das Schleppen der Bricketts und das tägliche Fegen des feinen Aschestaubs verzichten.

Die Nummer 1 ist nicht nur eines der letzten, sondern auch eines der ersten Häuser im Quartier. Sie stand schon an der Ecke zur Bergmannstraße, als die frisch gepflasterte Straße gerade mal bis zur Arndtstraße reichte und noch die namenlose Nummer 27a des Bebauungsplanes trug. Wo heute die Backsteinwälle der Kaserne des Garde-Kürassier-Regiments den Blick am Ende der Straße begrenzen, lagen damals noch Feld und Wiese. Doch schon in den allerersten Tagen des Hauses soll sich im Erdgeschoss ein Lokal befunden haben.

Das zwanzigste Jahrhundert brach an, der Erste Weltkrieg zog vorüber, dann kamen der Diktator und der zweite große Krieg. Zwei Stolpersteine aus Messing erinnern daran, dass die Männer mit den lauten Stiefeln auch an der Tür des Eckhauses Bergmannstraße Nr. 30 nicht vorübergingen: Am 9. September 1942 nahmen sie die 70jährige Margarete Riesenfeld mit und ermordeten sie in Theresienstadt, ebenso wie Hedwig Engel, 68 Jahre alt. Ob die Wirtsleute nebenan sie kommen sahen, und ob sie die Frauen vielleicht noch hätten warnen können, ist nicht überliefert.

Auch, wer vor dem Krieg die Wirtschaft betrieb, weiß heute niemand mehr. In den Sechzigerjahren hieß sie noch Bei Süring, und sie gehörte eben dem Herrn Süring, der zuvor in der Polizeistation am oberen Ende der Heimstraße Dienst tat und eines Tages die Kneipe, in der er ohnehin jeden Abend sein Feierabendbier trank, ganz übernahm. Ärger wegen der langen Öffnungszeiten werden ihm die Kollegen von der Wache kaum gemacht haben. In den 80ern war an der Ecke ein Lokal namens Simplizissimus, eine »verrauchte Anarchokneipe«, in der es nicht nur Bier und Wein, sondern Drogen aller Art gab. Heute versuchen dort, wo zuvor noch die Reklametafeln der Kindl-Brauerei an den Wänden hingen, Hirschgeweihe und Rehköpfe österreichische Stimmung aufkommen zu lassen. Kaum war die Mauer gefallen, entschloss sich ein Gastronom aus Wien, in der nun sicheren, nicht mehr von Russen umstellten Stadt Gulasch, Knödel und Kaiserschmarrn zu verkaufen, sogar der Berliner Bürgermeister war hier bereits zu Gast.

Der Kachelofen allerdings ist auch hier längst verschwunden, obwohl die behaglichen Bauten in keinem echt-österreichischen Beisl fehlen dürften. Aber die Hausbesitzer sind wahrscheinlich erleichtert über jede offene Feuerstelle, die abgebaut wird. Schon einmal stiegen dicke Rauchwolken aus der dritten Etage. Wäre der Musiker im fünften Stock nicht gewesen, der seiner nächtlichen Arbeitszeiten wegen erst am späten Vormittag frühstückte, während alle anderen schon bei der Arbeit waren, dann hätte womöglich niemand den Brand bemerkt. Es dauerte nicht lange, da stand der Musiker im Hemd auf der Straße, die fast leblose Katze vom Nachbarn im Arm. Der Kater unter der rettenden Sauerstoffmaske der Feuerwehr wurde am nächsten Tag zum »Foto des Tages« in der BZ.

Die Nummer 1 mit ihren Sonnenblumen, Tomaten und Klettergewächsen auf den Fensterbänken erinnert noch heute an die Siebzigerjahre mit ihren Studenten-WGs, den langen Partys und dem Hanf auf den Balkonen. Und die wackelige Backsteinmauer mit ihren kleinen Türmchen und Schindeln, die den winzigen Hof der Nummer 1 von der Nummer 2 trennt, erinnert noch an die Jahrhundertwende. Das Haus, so unscheinbar grau und schmucklos es auch sein mag, müsste unter Denkmalschutz gestellt werden. Als eines der letzten, das noch an jene Nachkriegsjahre erinnert, in denen Berlin eine echte, fast vergessene Insel war. •

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