Kreuzberger Chronik
Oktober 2017 - Ausgabe 193

Literatur

Wer einmal tief im Keller saß


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von Gunter Gabriel

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Deshalb heuerte ich nebenbei wieder als DJ an. Diesmal in der Dachluke in Berlin-Kreuzberg. Der Laden, ursprünglich vom Senat als so eine Art Jugendzentrum geplant, war total runtergewirtschaftet. Anfangs stand ich mit den Angestellten alleine drin. Doch schon nach einigen Wochen brach er – vor allem am Wochenende – auseinander. (...)

Da ich groß und relativ stark war, musste ich auch ran, wenn es Stress gab. (...) Was nicht immer einfach war, denn wir hatten ziemlich harte Jungs im Laden. Weihnachten 72 kündigten sich die Hells Angels aus Hamburg an. Als der zuständige Senatsmitarbeiter das hörte, wollte er die »Dachluke« über die Festtage schließen. »Viel zu gefährlich!«, sagte er. »Die nehmen uns die ganze Bude auseinander. Die wollen Blut sehen.« Schwachsinn, dachte ich. Die wollen doch auch nur ein bisschen feiern. Allerdings eilte ihnen ein bitterböser Ruf voraus, und man hatte uns alle gewarnt: »Die machen euch alle platt hier in Berlin. Hamburg gegen Berlin. Das wird eine Schlacht ohne Ende.«

Ich tat unerschrocken. Vielleicht war ich auch naiv. Jedenfalls gab ich die Order aus: »Schickt die Jungs gleich zu mir, ich habe ’ne kleine Überraschung für sie!« Und dann kamen sie. Riesige Typen auf ihren Harleys, die sie in einer Reihe auf dem Bürgersteig parkten, bewaffnet mit Ketten und Schlagringen. Ich spielte gerade »Am Tag, als Conny Kramer starb«, als eine Barfrau ganz aufgeregt zu mir kam. »Sie sind jetzt da, Gunter! Sie sind jetzt da!« Ich drehte Juliane runter und Deep Purple hoch – »Smoke On The Water«. Und da standen sie: die starken Jungs aus Hamburg. Ich sprang zu ihnen runter und sagte: »Hallo, ich bin Gunter, der DJ, schön, dass ihr gekommen seid!« Der Anführer nickte mir zu, sah mich mit einer Mischung aus Misstrauen und Belustigung an, schätze, er war sich nicht sicher, ob ich ihn verarschen wollte. »Holt mal eure Maschinen hoch, im Lastenaufzug, und dreht mal ´ne Runde hier durch den Laden.« Um die tausend Leute passten in den Club, der im sechsten Stock einer Fabrik lag. Nach dreißig Minuten waren alle Maschinen oben. Sie drehten eine Runde mit aufgerissenen Scheinwerfern. Ein Höllenlärm, ein infernalischer Gestank. Und dann rief ich den Boss zum DJ-Pult ans Mikrofon. »Hier, lies die Weihnachtsgeschichte«, und drückte ihm die Bibel in die Hand. Das Gesicht hättet ihr sehen müssen. Ich drückte ihm eine Flasche Jim Beam in die Hand und er fing an zu lesen.

Ich unterlegte das Ganze mit einem passenden Musikteppich, und mit den Kerzen, die wir überall verteilt hatten, kam tatsächlich so etwas wie weihnachtliche Stimmung auf. Während er las, verteilten die Barfrauen Freisekt im ganzen Laden. Als er fertig war, sangen wir alle gemeinsam »Stille Nacht, Heilige Nacht«. Und alle Angels sangen mit. •

G.Gabriel, O.Flesch, »Wer einmal tief im Keller saß«, Edel Vita 2012, 978-3-941378-17-9


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