Kreuzberger Chronik
Dez. 2017/Jan. 2018 - Ausgabe 195

Holger Gross Kreuzberger
Gabi Mehlitz

Die Blockflöte hat mich nicht wirklich weiter gebracht!


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Holger Gross

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Als Gabriele Mehlitz geboren wurde, war der Krieg noch nicht lange vorbei. 18 Quadratmeter hatten die drei Geschwister in der winzigen Eineinhalb-Zimmer-Wohnung am Schlesischen Tor zur Verfügung. Gabi »war das völlig egal, wir kannten nichts anderes.« Ein Bass in dieser Wohnung wäre undenkbar gewesen, es gab gerade noch Platz für eine Blockflöte. Auch Betten passten kaum noch in die Wohnung, das Abendessen wurde stets mit dem gleichen Satz beendet: »Muss jemand noch mal an den Schrank? Dann wurde der Tisch abgeräumt und vor den Schrank geschoben. Und dann wurden die Klappbetten ausgezogen.«

Die Stadt war schon geteilt, nur die Mauer stand noch nicht. Also spazierte die Familie sonntags über die Oberbaumbrücke zum traditionellen Eisessen, »drei Kugeln Schokolade in der Muschel für 15 Pfennige«. Zitrone oder Schokolade, das war die Frage. Damals teilte sich die Welt noch nicht in Ossis und Wessis, sondern in die Zitroneneisfans mit kurzen Hosen und zerschundenen Knien, und in die etwas dicklichen, stets mit braunen Flecken bekleckerten Schokoladeneisschlecker. Gabi liebte Schokolade, aber sie war »so was von dünn«, dass der Eisverkäufer immer gleich nach der Zitrone griff.

Foto: Privat
Gabi Mehlitz war schwer einzuordnen. Sie konnte die Beste sein und die schlechtesten Arbeiten schreiben. Wütend malte die Lehrerin riesige Fragezeichen an den Rand ihrer Biologie-Arbeit, in der die Schülerin aus purem Blödsinn die Pferde zu Nagetieren und die Hühner zu Säugetieren gemacht hatte. Der Englischlehrer, der zufällig hereinkam, warf einen Blick auf das Schriftstück und begann schallend zu lachen. Aber die Lehrerin blieb bei der Sechs.

Da Gabi die Schule auch sonst nicht sonderlich ernst nahm, den Sommer lieber im Prinzenbad als mit Hausaufgaben verbrachte, fanden sich 16 Tadel und unzählige Fehlzeiten im Klassenbuch. Dass sie das Abitur schaffen und einmal Psychologie studieren würde, hätte damals keiner geglaubt.

Mit sechzehn floh sie aus der familiären Enge der 36-Quadratmeterwohnung und zog zu einem Freund, der sie »alle drei Wochen raus warf«, so dass sie mit ihren »sieben Plastiktüten ständig von WG zu WG zog«. Aber man kümmerte sich um sie, »die achteten sogar darauf, dass ich zur Schule gehe und meine Hausaufgaben mache.« Die große Freiheit war es noch nicht, aber alleine wohnen konnte sie »erst mal gar nicht. Das hab ich sehr langsam lernen müssen. Ich brauchte immer jemanden um mich herum.«

Foto: Privat
Zehn Jahre nach dem ersten Freund kam dann Jörg. Jörg spielte Gitarre. Und Jörg brauchte dringend noch einen Bassisten für seine Band namens »Sturmvogel«. Gabi war noch skeptisch, »die Blockflöte hat mich nicht so richtig weitergebracht, und außerdem: Wenn du 1978 als Frau in einen Gitarrenladen gegangen bist, dann fragten die: Wat willst´n du hier?« Aber Gabi ist keine wirkliche Schokoladeneisschleckerin. Gabi kaufte sich einen braunen E-Bass, lackierte ihn schwarz und trat mit den Sturmvögeln im Rauch-Haus und im Bethanien auf. Es dauerte nicht lange, da war aus Gabi »Bass-Gabi« geworden. Gabriele sagte jetzt niemand mehr. »Die Gabriele kannten sowieso nur die Lehrer und die Ärzte.«


Foto: Privat
Die Liste der Bands, mit denen sie seit 1978 auf der Bühne stand, ist lang. Darunter Hearth Beat Five oder Berlin Beat Club, Männer-Formationen aus leidenschaftlichen Rock´n´Rollern, die nicht nur die Gitarre halten können, sondern die »auch alles wissen über jeden Rock´n´Roller, den es irgendwo mal gab auf der Welt.« Auch die Liste der Bühnen ist lang: Quartier Latin, Quasimodo, Rickenbackers, Yorckschlösschen, Tempodrom... - die größten und die kleinsten Bühnen der Stadt. Nur im Osten ist sie kaum gewesen. Der Osten war zu einem fremden Land geworden, seit sie nicht mehr über die Oberbaumbrücke gehen konnten. Er ist es bis heute geblieben, »nirgendwo ist die Mauer noch so existent wie in der Musikszene«. Das ärgert sie.

Foto: Privat
1984 kam Gabi Mehlitz auf die Idee, mit zwei anderen Gabis eine Frauenband zu gründen. Frauen konnten jetzt ohne weiteres in Gitarrenläden gehen und Bassgitarren kaufen. Sie nannten sich Die Gabis, surften auf der Deutschen Welle und zogen die Aufmerksamkeit eines Produzenten auf sich. Es sah aus, als könnten sie Karriere machen. Doch dann betrat Rio Reiser die Szene, und der Produzent verlor die Musikerinnen wieder aus den Augen. Vielleicht hätten sie trotzdem die Herzen der Kreuzberger erobert, wenn Gabi nicht eines Tages auf einem Straßenfest am Stand dieses Karikaturisten vorbei gekommen wäre, den sie sich immer ganz dick und alt vorgestellt hatte. Aber Klaus war schlank und groß »und hatte eine echte Matte!« Noch viel schlimmer war: Er hatte auch eine schöne Frau. »Conny und er, das war ein Traumpaar, ganz Kreuzberg kannte die beiden.«

Dennoch saßen sie eines Tages plötzlich nebeneinander im Flugzeug. Moskau hatte einige ausgewählte Künstler aus West-Berlin eingeladen, um ihnen die kulturellen Errungenschaften der Sowjetunion näher zu bringen, unter ihnen Gabi Mehlitz und Klaus Stuttmann. Schon auf dem Heimweg wünschten sich beide, dass das Flugzeug immer so weiterflöge, »und dann sagt der Pilot, dass in Tempelhof ein Schneesturm tobt, und dass wir zurück nach Warschau müssen.«

So saßen sie dann die halbe Nacht in Warschau nebeneinander auf unbequemen Stühlen, müde und verliebt, glücklich und unglücklich, bis irgendwann Max geboren wurde. Das war 1987. Und das war das Ende der ersten Gabis.

Über dreißig Jahre war Gabi Mehlitz – abgesehen von einem kurzen Fremdgang nach Charlottenburg – ihrem Heimatbezirk treu geblieben. Jetzt zog sie von »SO 36 nach 61«. Eine Zeit lang wurde es stiller, erst als Max in die Schule kam, griff sie wieder zum Bass und zum Telefon. Sie rief Gitarren-Gabi an und fragte, ob sie nicht Lust hätte, eine Band zu gründen. Die restlichen Frauen suchten sie sich aus Rockcity-Berlin zusammen, einer Art Musiker-Adressbuch. Da waren alle alphabetisch aufgelistet, Saxophonisten, Schlagzeuger, Gitarristen... Eine Sängerin wohnte sogar gleich um die Ecke, also gingen sie hin, klingelten und fragten, ob sie mitmachen würde. »Damals konnte man auch noch zum Radio gehen und sagen, Hallo, da bin ich! Oder man konnte bei Giorgio im Quasimodo anrufen und fragen, ob die Bühne frei wäre.« Heute geht alles über den Computer. Es ist selten geworden, dass noch jemand anruft. Und an der Haustürklingel klingelt schon lange niemand mehr.

So kamen sieben Frauen zusammen. Und weil wieder drei Gabis dabei waren, und weil sie die Musik der Sechzigerspielen spielen wollten und der Name Gabi an die blonden Pferdeschwänze der Sechziger erinnerte, nannten sie sich »Die Gabys« – diesmal mit »Y«. Am 9. September 1992 betraten sie die Bühne der Festlichen Tage auf dem Kreuzberg, wo sie schon 1972 auf der Wiese saß, als Eric Burdon die Bretterbühne betrat. »Die ganze Wiese war voller Hippies, es war ein Wahnsinn, wie Woodstock!« Jetzt, zwanzig Jahre später, stand sie selbst dort oben. Gabi hatte ihre Gabys ganz in Schwarz gekleidet, bis auf je ein Teil aus einem schrillen, bunten Stoff: Eine Weste, eine Jacke, eine Hose...- »Ich hab schon immer die Bands benäht, das war mein Job.« Kostüme gehören dazu zum Rock´n´Roll. Und Jeans. Sie trägt meistens Jeans. Manchmal auch kurze Hosen, wie damals am Eisstand. Nur in Röcken und Kleidern fühlt sie sich »nicht so richtig wohl«. Obwohl sie letztlich beim Summer of Love Festival mit einem langen Hippiekleid auftrat und so viele Komplimente zu hören bekam wie selten.

Das Telefonieren und Klingeln ist selten geworden, aber noch immer kommen ihre Fans hinter die Bühne, um zu fragen, wo ihre Ohrringe vom letzten Mal sind, oder warum sie sich die roten Haare nicht schwarz färbt. Oder sie fragen, ob die Gabys auch auf einem Straßenfest spielen würden. Eine kleine Chinesin fragte sogar mal, ob sie auch nach China kommen könnten.

Gabi hob die Schultern und sagte: »Jaja, klar, natürlich, China, sofort. Ich wollte immer schon mal in den Osten!« – Ihr war klar, dass sie die Chinesin nie wiedersehen würde. Aber die übersetzte alles, was sie Informationen über die Gabys bekommen hatte, in chinesische Schriftzeichen, »das hätte man mal fotografieren müssen! Und irgendwann kam sie und sagte, es sei alles in Ordnung, wir müssten nur die Tickets bezahlen. Das war uns zu teuer, wir sagten ab«, aber dann stand sie plötzlich wieder da und wollte die Passnummern. Ein paar Tage später lagen sieben Verträge in Deutsch auf dem Tisch.

So landeten im Mai 2004 sieben Gabys auf dem Flughafen von Peking. Empfangen wurden sie von einer Schar von Fotografen, einem Chauffeur und einem Fremdenführer, der zehn Tage nicht von ihrer Seite wich. Sie wurden ins Hotel gefahren, zur Chinesischen Mauer, in die Verbotene Stadt und in die Restaurants, wo sie Dinge aßen, die sie mit Sicherheit im Leben nie zuvor gegessen hatten und nie wieder essen würden – »dreimal entfernte sich der Kellner, um in der Küche nachzufragen, was wir da eigentlich essen. Aber wir haben es nie erfahren!«

Und dann standen sie auf der Bühne, in einem riesigen Park, vor 5000 Zuschauern. »Und als unsere Gitarristin nach dem ersten Stück ihre langen blonden Haare zur Seite wirft, damit sie nicht so vor dem Mikro herumschwirren, fangen diese 5000 Chinesen an zu kreischen, als hätten die noch nie eine blonde Frau gesehen. Augenblicklich marschierten fünfzehn Polizisten von der Seite ein und positionierten sich in einer Reihe direkt vor der Bühne, wo sie durch uns hindurch in die Ferne schauten. Das Publikum wurde leiser, aber nach zwei Liedern waren sie schon wieder am Toben. Und dann fiel plötzlich der Strom aus. Und der kam auch nicht wieder. Nach vier Stücken konnten wir abtreten.«

Die kleinen Chinesen entschuldigten sich abends mit höflichen Verbeugungen, aber auch am zweiten Tag verfielen die Zuschauer beim Anblick der blonden Frauen in Hysterie, wieder marschierte Polizei auf, wieder fiel der Strom aus. Auch der dritte Auftritt dauerte nur ein paar Minuten. Die Bayern in ihren Lederhosen und mit ihrer Blasmusik hatten diese technischen Probleme nicht. Aber immerhin: Gabi Mehlitz, die kaum mehr über die Oberbaumbrücke kam, war in Moskau und Peking aufgetreten.

Das 20-jährige »Gabyläum« feierten die Gabys aber lieber wieder im Westen, in der Oranienstraße. Im SO 36, ihrer alten Heimat. Sie war schon öfter hier aufgetreten, die rothaarige Bassistin, die ganz anders als ihre unbeweglichen männlichen Kollegen immer leicht mitschwingt mit den tiefen Basssaiten über dem langen Gitarrenhals. Fünfzehn Frauen standen auf der Bühne, es wurde eng zwischen den zwei Keyboards, den Lautsprechern und den Mikrofonen. Am 15. Dezember im Rickenbackers wird es noch ein bisschen enger werden. Dann feiern die Gabys ihr 25-jähriges Jubiläum. Aber Gabi Mehlitz kommt auf kleinstem Raum zurecht. Sogar mit der langen Bassgitarre. •

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