Kreuzberger Chronik
Dez. 2017/Jan. 2018 - Ausgabe 195

Essen, Trinken, Rauchen

Sas wird intolerant


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von Saskia Vogel

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Sas weiß nicht mehr, was sie essen soll. Sie bekommt Pickel vom Schweinefleisch und Haarausfall vom Rind, Schweißausbrüche bei Kohlrabi, Krämpfe bei Petersilie, Bauchschmerzen bei Brötchen. Und mit sofortiger Wirkung leidet sie auch unter einer Glutenintoleranz. Sas fehlt jegliche Akzeptanz.
Da bleibt nur noch das kleine Café in der Nostitzstraße. Glutanada nennt es sich. Ein Team aus Ernährungsexperten hat die Speisekarte extra für Sas ausgetüftelt. Gluten hätte etwas mit Weizen zu tun, erklärt das Tresenmädchen: »Genauer mit dem Urkorn. Das ist ja heutzutage nicht mehr ursprünglich und deshalb Auslöser für Bauchschmerzen.« Sie selber habe damit aber nichts am Hut.
»Gluta Nada!«, das bedeutet: »Alle an einen Tisch!«. Denn egal ob man unter Zöliakie leidet oder sich ganz normal vegan ernährt: Im kleinen Kellerbistro in der Nostitzstraße kann jeder ohne Angst vor »Kontamination« einen Kürbis-Walnuss-Gemüseauflauf genießen. Die hübsch bunt illustrierte Allergieliste in der Speisekarte macht sogar regelrecht Appetit auf den ganzen Ernährungs-Hokuspokus, der derzeit durch alle Zeitschriften und Fernsehsender geistert und es sogar bis in die Politik geschafft hat: 14 Allergieauslöser hat die EU auf höchster Ebene festgelegt.
Sas beschließt, sich ab sofort auch gegenüber Lupinen, Weichtieren und Waschlappen intolerant zu zeigen.»Alle an einen Tisch!« Im konkreten Fall allerdings sitzt Sas einsam an einem schmalen Holzbänkchen und isst eine Kokos-Limetten-Torte. Und sie muss sagen: Das schaumige Sahnestück ganz ohne Tier und Milch ist das beste Stück Torte, das sie seit langem im Bergmannkiez genossen hat.
Ansonsten ist es in diesem Souterrain etwas traurig: Nicht nur, dass sich zur besten Kaffeezeit niemand einen Tisch mit Sas teilt, um gemeinsam über das gemeinsame Leiden zu philosophieren, auch die Eistheke ist leer, der Crêpeswagen ist kalt. Dabei sollte hier die Spezialität des Hauses brutzeln. Das Ganze ist so traurig wie ein verlassener Jahrmarkt im Nieselregen.Doch da kommt Rosina aus dem kleinen Second-Hand-Lädchen nebenan. Rosina ist ein Kreuzberger Urgestein. Eine Dame. Und überzeugte Vegetarierin. Nicht erst seit es vegetarische, vegane und glutenfreie Restaurants gibt, sondern seit dreißig Jahren.
Für das kleine Bistro ist der Majestätsbesuch mehr als ein verdienter Adelsschlag, denn Rosina kommt beinahe jeden Tag zu Kaffee und Kuchen in das Lädchen in der Nachbarschaft. Sas und Rosina plaudern ein wenig, dann macht sie sich auf den Heimweg.Schon in der U-Bahn verspürt sie ein leichtes Ziehen in der Magengegend, da fällt ihr Blick auf das fettgedruckte Wort in einer Frauenzeitschrift: Wasserintoleranz! Sollte sie womöglich...? Sas schwindelt, sie weiß: Auch sie besteht zu 90 % aus H2O. •

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