Kreuzberger Chronik
Dez. 2017/Jan. 2018 - Ausgabe 195

Reportagen, Gespräche, Interviews

Weihnachten in der Bergmannstraße


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von Sybille Matuschek

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Weihnacht in der Bergmannstraße

Geschäftsbesitzer in ganz Deutschland fiebern dem Weihnachtsgeschäft entgegen. In der Bergmannstraße ist man entspannter. Große Umsätze erwartet niemand mehr.

von Sibylle Matuschek

Es ist noch nicht lange her, da war die Bergmannstraße eine Einkaufsstraße. Sie war der Kreuzberger Ku´damm, eine kleine und angenehme Alternative zu den teuren Geschäften an Berlins berühmtester Shoppingmeile. Während alljährlich Scharen von Mittelständlern vor den weihnachtlichen Schaufensterdekorationen des KaDeWe auf- und abflanierten und mit ihren riesigen Paketen Busse und U-Bahnen verstopften, trafen sich in Kreuzberg jene, die dem vorweihnachtlichen Konsumrausch entsagten und lieber bei einem Trödler nach einer alten Taschenuhr oder silbernen Serviettenringen suchten. Noch Anfang der Neunzigerjahre gab es in der Bergmannstraße 17 Trödelhändler, zehn Jahre später waren sie noch 6. Heute stellt nur noch Onkel Abou-Dabou seine Kartons mit Ausgedientem auf die Straße.

Second-Hand-Hemden, -Hosen oder -Kleider gibt es kaum noch in und um die Bergmannstraße. Lediglich Rosina in der Nostitzstraße ist geblieben. Der neue Laden in der Bergmannstraße mit seinen durchgestylten Kleiderpuppen und dem neumodischen Innendesign ist kein echter Second-Hemd-Laden mehr, hier ist längst »Allet Schick«.

Immerhin Ararat mit seinen Postkarten ist noch da, dieser Laden, der schon vor dreißig Jahren Berliner aus der ganzen Stadt anlockte, die auf der Suche nach einer etwas anderen Weihnachtskarte waren. »Ein paar dieser Weihnachtshasser kommen heute noch.« Andere kommen der Rahmen wegen, die Wilfried für Ararat seit über zwanzig Jahren auf Maß schneidet, egal, ob es goldene Barockrahmen oder schmalspurige Alurahmen sind. Es gibt eine Dame aus der Schweiz, die jedes Jahr mit einem Ölgemälde auftaucht, für das sie dringend noch die geeignete Fassung braucht. Und die findet sich nicht am Ku´damm.

Die Schweizerin ist eine Ausnahme. Touristen sind in der Vorweihnachtszeit eher selten in der Bergmannstraße. »Ohne die Kreuzberger könnten wir dicht machen«. Das sagt auch Klaus Fehling vom Fotoladen gegenüber der Markthalle. Im Sommer gibt es Tage, »da geht ohne Englisch gar nichts mehr, da glaubst du, du bist in Amerika.« Vor Weihnachten aber stehen plötzlich wieder Deutsche im Laden. Sie haben gemerkt, dass Bilder in Büchern schöner sind als Bilder auf dem Bildschirm, und reichen dann schnell einen Chip mit fünfhundert unsortierten Aufnahmen über die Theke. Früher kamen sie mit einer sorgfältigen Auswahl von 30 Stück. Heute haben sie zum Aussortieren keine Zeit mehr. Dafür haben sie Geld.

Die Fahrradstation nebenan müsste jetzt Hochsaison haben. »Kinder lieben Fahrräder!«, erinnert Stefan Neitzel jedes Jahr aufs Neue in großformatigen Anzeigen. Tatsächlich kommen einige auf der Suche nach einem Rad von weit her in seinen Laden. Die Station befindet sich seit 25 Jahren in der Bergmannstraße, hier verstand man
schon etwas von Rädern, als die Radler noch eine belächelte Minderheit waren. Doch die Konkurrenz ist groß, das Internet und die Kaufhäuser sind voller günstiger Zweiräder. Aber auch wenn er nicht mehr ganz so viel verkauft wie früher: »Die Bergmann mit ihren kleinen Läden ist eben immer noch tausendmal schöner als diese überheizten Einkaufscenter. Ich finde, wir haben denen etwas entgegenzusetzen.«

Auch wenn die Zeiten, als man gemütlich zum Weihnachtsbummel loszog, der Vergangenheit anzugehören scheinen. »Einfach mal so durch die Straßen zu laufen, sich die Fenster anzusehen und etwas zu kaufen, zwischendurch einen Kaffee oder einen Wein zu trinken - das ist vorbei!« Dietmar Kirchhoff vom Taschen- und Rucksackladen BagAge klagt über die neuen Kaufgewohnheiten. »Früher standen die vor einer Tasche, sahen sich die zehn Minuten an und kauften dann, weil sie dachten: Die kriege ich nur hier, und wenn ich die heute nicht kaufe, kriege ich die nie wieder.« Heute notieren sie sich den Namen des Labels und bestellen vom Sofa aus. Es sei denn, es ist gerade Weihnachten, und die Lieferzeiten sind zu lang.

Vieles hat sich verändert. Nicht einmal Weihnachtsbäume gibt es mehr in der Straße. Eine Zeit lang hatten die Ladenbesitzer der Straße Bäume vor dem Fenster, der Nachwuchs aus den umliegenden Schülerläden bastelte den Weihnachtsschmuck dazu. Doch mit jedem Laden, der einem Restaurant oder Café weichen musste, wurden es weniger. Sie hatten nur noch Platz für Stühle und Tische. Den Rest erledigten nachts durch die Straße ziehende Halbstarke, die sich einen Spaß daraus machten, den Christbaumschmuck zu zerstören.

Auch Thomas Lefeber, der nach dem Verkauf des Hauses mit seinem Plattenladen von der Bergmannstraße in die Nostitzstraße umziehen musste, hat keinen Baum mehr. »Mit Musik-CDs kann man eh nichts mehr verdienen.« Was noch geht, sind alte Platten. Aber die taugen nicht unbedingt für den Weihnachtsbaum. »Man schenkt ja nichts Gebrauchtes mehr!« Dass jemand kommt, so wie letztens, und sagt, er hätte gern die Stand up von Jethro Tull für seinen Vater, weil das die erste Platte seiner Sammlung war, ist selten geworden.

Und die Miniaturgitarren, die zehn Zentimeter hohen Modelle der legendären Gitarren von Jimmy Page oder Jimi Hendrix, die er früher sogar im Schaufenster des Weing´schäftes in der Bergmannstraße platzieren konnte, um auf seinen Plattenladen in der Seitenstraße aufmerksam zu machen, kann er dort nun auch nicht mehr aufstellen. Der Weinladen, der seit über 30 Jahren in der Gegend um die Bergmannstraße für gute Stimmung sorgt, hat den Besitzer gewechselt. Nur die Verkäufer sind noch dieselben, und die ärgern sich noch immer über die vorweihnachtliche Kundschaft, die sämtlich erst am 23. Dezember auf die Idee kommt, eine gute Flasche Wein für die Weihnachtsgans zu kaufen.

Lefeber sagt, dass das Solidaritätsgefühl unter den Gewerbetreibenden verloren gehe. Und genau das war das Besondere an dieser Straße. Und an Kreuzberg überhaupt. »Man kannte sich und hat sich gegenseitig geholfen.« Man saß nach Feierabend noch im Atlantic zusammen, plauderte und entwickelte Ideen. Zu Straßenfesten, Flohmärkten, Schaufenstergestaltungen. Das gibt es nur noch selten. Und mit jedem neuen Laden, der aufmacht, wird es noch ein bisschen seltener.

So wird die Bergmannstraße allmählich ganz gewöhnlich. Sie hat ihren Charakter verloren. Ihre Seele verkauft. Läden wie der von Dietmar Kirchhoff, der irgendwann mit ein paar Ledertaschen aus den Ferien zurückkam, oder der von Michael Becker, der nach einem herrlichen Urlaub in Frankreich auf die Idee kam, französische Seifenspezialitäten zu verkaufen und sein Männergeschenkgeschäft HERRLICH zu nennen, sind die letzten Originale der Straße. An die Stelle der Hippies, die noch in alle Welt aufbrachen, um beladen mit Stoffen, Patschuli, Räucherstäbchen, Kunsthandwerk und neuen Ideen kleine Lädchen zu eröffen, sind internatIonale Geschäftsleute getreten: Modegeschäfte wie 24Colours oder été Clothing. Läden, die es überall gibt auf der Welt. Auch wenn sie sich Heimat Berlin nennen. Überall auf der Welt laufen Menschen mit Schuhkartons und Plastiktaschen herum, auf denen Outlet oder Luccico steht. Jetzt laufen sie eben auch durch die Bergmannstraße.
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Aber ein paar Originale sind noch da. Kommedia, die Buchhandlung an der Markthalle. Kommedia ist Kult und einer der am besten sortierten Buchläden der Stadt, und die Fantasy-Buchhandlung UFO ist ein Unikat, ebenso wie das Antiquariat an der Ecke zur Schenkendorfstraße mit Kisten voller Klassiker auf dem Gehsteig. Auch ExtraBuch am westlichen Ende der Bergmannstraße hat sich mit seinen großformatigen Bildbänden zu Altkreuzberger Preisen längst eine Stammkundschaft erobert, die auch zu Weihnachten nicht ausbleibt.

Diese Ansammlung außergewöhnlicher Buchläden in der ehemaligen Trödelstraße ist einzigartig und sorgt dafür, dass sich zwischen den großen Paketen unterm Weihnachtsbaum hin und wieder noch ein kleines Päckchen mit einem Buch befindet. Nicht immer jedoch verbirgt sich unter dem Geschenkpapier ein schöngeistiger und lehrreicher Roman, unter den Kreuzberger Bäumen liegen häufig die Kriminalromane aus dem Hammett. Anfang Dezember wird der Büchertisch, auf dem gewöhnlich Hammetts persönliche »Buchtipps« liegen, leergeräumt, damit jeder der vier Mitarbeiter seine literarischen Empfehlungen dort präsentieren kann. Die ausgewählten Bücher sind mit einer »Bauchbinde« versehen, an der kleine Zettel mit Sätzen wie diesen hängen: »Dieses Buch lässt Dich mit einem Lächeln auf den Lippen zurück.« Oder: »Wunderschön traurig, das ideale Winterbuch. Kamin anmachen und lesen!«

Natürlich tauchen auch im Hammett, so wie im Weing´schäft, am 24. Dezember um fünf vor zwölf noch einige atemlose Weihnachtsgäste auf und fragen nach einem Buch, dessen Titel sie vergessen haben. Aber die meisten Besucher am 24. sind Stammgäste. »Die kommen nach dem Cappuccino kurz vorbei, um noch ein bisschen zu plaudern. Alte Kreuzberger, die immer noch nach Westdeutschland zu ihren Verwandten - nicht etwa nach Köln oder Frankfurt.« Oder sie fahren gar nicht weg und bleiben hier, ganz entspannt, auf dem Sofa, mit der Flasche Wein, die sie gerade gekauft haben. »Und dazu passt dann natürlich auch ein guter Krimi.«

So ist an einigen Orten in der Bergmannstraße alles noch ein bisschen so, wie es einmal war. Selbst in der Weihnachtszeit. •






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