Kreuzberger Chronik
September 2015 - Ausgabe 172

Strassen, Häuser, Höfe

Die Obentrautstraße 47/49


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von Werner von Westhafen

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Als gegen Ende des 2. Weltkrieges die Bomben auf Berlin fielen, fielen sie auch auf die alte Teltower Straße, die wenige Jahre zuvor zur Obentrautstraße geworden war. Sie trafen einige Häuser in der Straße, von denen die meisten schnell wieder aufgebaut wurden. In der Nummer 49 aber sauste eine Bombe bis ins Erdgeschoss. Bis heute klafft an jener Stelle, an der einst das Vorderhaus stand, eine Lücke in der Häuserzeile, und noch in den 90er-Jahren stand ein Stück von der Rückwand des Vorderhauses. Durch das Loch in der Wand, in dem sich einst das Hoftor befand, fuhren die Autos in den Hof zur Autowerkstatt - einer von vielen in der Obentrautstraße.

Früher hatten hier, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Quartier der Dragoner, die Huf- und Wagenschmiede ihre Werkstätten, beschlugen die Pferde der Kavallerie mit neuen Eisen und die hölzernen Räder der Kutschen mit neuen Stahlbändern. Auch Herr Schulze, der in Bauzeichnungen aus dem Jahr 1865 als erster Eigentümer des Grundstückes Teltower Straße 50 genannt wird, lebte von den Pferden. Er war Fuhrunternehmer, hinter dem Seitenflügel des vierstöckigen Wohnhauses schlossen sich Pferdeställe und Remisen für die Kutschen an. Doch schon 1869 ließ der Fuhrmann über den Ställen zwei Stockwerke mit »Apartments« bauen. Sie existieren noch heute.

Foto: Dieter Peters
Wann der erste Schmied sich im Hof der Nummer 49 einrichtete und im zweiten Stock der kleinen Fachwerkremise ein Stellmacher einzog, ist nicht überliefert. Sicher ist, dass ein Huf- und Wagenschmied namens Otto Janisch nach dem Krieg in der Remise seine Werkstatt hatte, mit Esse, Amboss, Blasebalg, riesigen Hämmern und riesigen Zangen, mit denen das glühende Eisen angepackt wurde, und den vielen Zentimeter dicken, bald 150 Jahre alten Eichendielen, auf die Jahrzehnte lang glühendes Eisen tropfte, ohne dass sich das Holz jemals entzündete. Dennoch kamen in den Sechzigern ein paar Herren mit Krawatten und beanstandeten den hölzernen Boden. Doch Joachim Liebenau, der letzte Schmied in der Obentrautstraße, hat viel von der Vergangenheit gerettet, die meisten der Dielen liegen noch heute. Es ist gar nicht lange her, da entfachte der Schmied noch Feuer in der Esse, »aber jetzt sind nebenan, wo einmal das Krankenhaus war, Eigentumswohnungen. Und diese Leute vertragen keinen Rauch!«

Foto: Dieter Peters
Joachim Liebenau ist der Sohn von Erwin Liebenau, der in der historischen Schmiede in Rixdorf das Handwerk lernte. 1946 fing er bei Janisch in der Nummer 49 an. Sie beschlugen jetzt keine Pferde mehr, sondern schweißten Anhänger und Autos zusammen, schmiedeten neue Geländer und Balkongitter für die vom Krieg zerstörten Häuser. Als Janisch 1952 starb, führte Erwin Liebenau die Geschäfte für die Witwe weiter, die im Seitenflügel im 3. Stock wohnte. Als auch sie 1960 starb, bot Rainer, ihr Sohn, dem Schmied an, die Werkstatt ganz zu übernehmen. Also kaufte Erwin Liebenau, der keine Lust hatte, sich noch einmal nach einem neuen Chef umzusehen, die kleine Fachwerkremise im Hof der Nummer 49.

Einige Jahre später kam die Verwalterin des Grundstückes zum Schmied, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Die Erben wollen das Vorderhaus und den Seitenflügel verkaufen. Sehen Sie zu, dass Sie das kaufen, sonst sind Sie Ihre Schmiede bald los.« Die Verwaltung wusste, dass der mögliche Käufer die Lücke zwischen den Häusern schließen wollte, und dass es ein Gesetz gab, das bei einem Neubau den Abriss des kompletten Hinterhofs samt Seitenflügel und Remise vorschrieb. So blieb dem Schmied gar nichts anderes übrig, als sein Glück zu machen: Er kaufte das Grundstück mit der Nummer 49.

Seitdem hat sich nicht all zu viel verändert. »Und so lange ich hier bin, wird sich hier auch nichts verändern!«, sagt Joachim Liebenau. Der Sohn des Schmieds führt alles so weiter, wie es sein Vater auch getan hätte. Er hat - eigenhändig - den alten Putz von den Hauswänden geschlagen, er hat, auch beinahe eigenhändig, das historische Pflaster im Hof ergänzt, er hat die Fenster verglast und den Baum gefällt, der auf die Werkstatt zu stürzen drohte. Joachim Liebenau hat Abitur gemacht, aber am Ende landete er doch auf dem Hof des Vaters und machte den Meister als Schmied und Fahrzeugbauer.


Foto: Dieter Peters
Als auch das Nachbarhaus mit der Nummer 47 verkauft werden sollte, kam die Verwalterin auf Joachim zu und sagte, er sei doch noch jung, er brauche Platz. Er solle schauen, dass er die 47 kaufen könne. So wie der Vater, zögerte auch der Sohn nicht lange, sprach mit seinen 21 Jahren bei den Eigentümern vor und sagte, er wolle das Grundstück samt Haus und der alten Seltersfabrik im Hinterhof kaufen. Drei Jahre zögerten die Erben, dann verkauften sie. In die Keller des Wein- und Likörhandels Führer, der nach der Seltersfabrik in den Räumlichkeiten neben dem hohen Schornstein eingezogen war, räumte der junge Schmied Federn, Schalthebel, Fensterscheiben und verschiedenste Motorteile ein. Wo es einst nach Wein und Alkohol duftete, roch es nun nach Maschinenöl. Auch im Erdgeschoss des Seitenflügels, wo einst ein Schlächter, ein Tischler und ein weiterer Schmied ihre Werkstätten hatten, verbreitete sich in den Siebzigerjahren der Benzingeruch. Denn der Sohn des Hufschmieds hatte eine Leidenschaft: Sportwagen. Und noch heute, wenn Joachim Liebenau morgens die hölzerne Treppe im zweistöckigen Seitenflügel hinabsteigt, der mit dem alten Steinpflaster und der Linde neben der Haustür ein bisschen wie ein Landhaus aus vergangenen Zeiten aussieht, freut er sich darauf, in seinem Hof und seiner Werkstatt weiter zu schrauben an irgendeinem dieser alten Sportwagen.


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