Kreuzberger Chronik
November 2015 - Ausgabe 174

Strassen, Häuser, Höfe

Die Köpenicker 55


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von Werner von Westhafen

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In der Köpenicker Straße residierten die verschiedensten Gewerbe. Stadtbekannt war der Kostümverleih von Willi Ernst


Es muss die Zeit gewesen sein, als die kleinen Häuser von Bauern und Handwerksbetrieben an der Straße nach Köpenick großen Wohnhäusern wichen. Die alte Landstraße schien sich zum Boulevard zu entwickeln, weshalb ein fleißiger Schneider namens Ernst auf die Idee kam, ein Geschäft zu eröffnen. Noch auf einer Fotografie aus dem Jahr 1937 sieht man rechts neben dem vier Stockwerke hohen, aber nur vier Fenster breiten Gebäude des Schneiders das zweistöckige Landhaus mit der Nummer 55 a, in dem sich damals noch die Molkerei Kunert befand. Doch die meisten Häuser der Nachbarschaft waren schon vier Stockwerke hoch und hatten mindestens zwei große Wohnungen auf jeder Etage.

Foto: Privat
Die Köpenicker Straße war schon immer eine bunte Straße mit den verschiedensten Geschäften, und es fiel kaum auf, als 1883 in dem Haus mit der Nummer 55b ein »Maskengarderobegeschäft« eröffnete, aus dem zum Karneval die merkwürdigsten Gestalten traten. Ohnehin zog die Nummer 55 mit dem Leihhaus von Otto Vogler stets eine interessante Kundschaft an, ebenso wie das Geschäft von U. Sahlmon, der ein patentiertes »Drehlotto mit geräuschlos laufender Gummikugel« verkaufte. Im Vorderhaus hatte August Wendtland sein Fotoatelier, während Julius Falkenstein im Hinterhof Papier und Pappen en gros produzierte. Ebenfalls im Hinterhof hatte sich die Maschinenfabrik von Henry & Co niedergelassen, die später von den Nazis enteignet wurde.

Doch nicht nur die Gewerbetreibenden, auch die Mieter der Köpenicker 55 waren beispielhaft für die gesunde Kreuzberger Mischung. Neben einer Hebamme, einem Gastwirt und kleinen Geschäftsleuten wohnte im 4. Stock der Nummer 55a Paul Schauerhammer, der Geschäftsführer einer großen Kartonagenfabrik, der laut FBI ein Kontaktmann Albert Einsteins war. Doch das war eher geheim.

In der ganzen Stadt bekannt war dagegen der Kostümverleih des Schneiders Willi Ernst, das, wie das »Fachblatt für Karneval-, Film- und Theaterausstattung« anlässlich des 50. Geburtstages von Willi Ernst schreibt, wohl »bedeutendste Geschäft dieser Branche in ganz Deutschland.« Was der Geschäftsgründer Carl Ernst 1883 als Saisongeschäft für die Zeit des Karnevals begann, wurde unter Willi Ernst, »der es verstand, jede Konjunktur geschickt auszunutzen« , in der Pionierzeit der Kinematographie zum bekanntesten Kostümverleih der Stadt. Dabei war die Konkurrenz in Berlin nicht klein, über 100 Kostümverleihhäuser hatten sich etabliert, die sich »gegen ein Heer von 1000 wilden« , also illegalen Verleihern behaupten mussten, die ihre Kundschaft in Frisörsalons, Schneidereien und Modegeschäften empfingen. Auch Warenhauskonzerne wie Karstadt machten den Kostümverleihern das Leben schwer, unterstützt von einer »übelwollenden Presse« und anderen »Gegnern des Leihgedankens.«

Willi Ernst mit seiner »größten Theater- und Masken-Garderobe« aber machte die Konkurrenz keine Sorgen. Über 15.000 historische Kostüme »aller Zeiten und Völker« sollen im ersten Stock der Köpenicker Straße in den Schränken gehangen haben. Kein Filmemacher, kein Schauspieler, der nicht mit seiner Droschke in der Köpenicker Straße Halt hätte machen müssen, um für den »Galeerensträfling« oder die »Tempelräuber« nach der geeigneten Garderobe zu suchen. Hermann Köhler, der Herausgeber der Fachzeitschrift »Kostüm und Maske« , behauptet, dass ohne das Kostümleihhaus von Willi Ernst »kein irgendwie bedeutendes Lichtbühnenstück« in Deutschland hätte aufgeführt werden können, denn Filme wie die »Rebellenliebe« , »Das einsame Wrack« , oder »Zu den zehn Lotusblumen« spielten auf exotischen Inseln und in Ländern, in denen weder Frack noch Zylinder zur Tagesgarderobe gehörten. Die Filme wurden Kassenschlager in einer Zeit, in der die Sehnsucht nach fernen Ländern noch groß war und die Kneipe an der Ecke nicht einfach nur »Bierkrug« hieß, sondern »Zum Afrikaner« .

Irene Rahkob, die Enkeltochter von Willi Ernst, erinnert sich noch an die Drogerie, die irgendwann im Erdgeschoss einzog, und an die gewaltigen, bis unter die Decke reichenden, von vorn bis hinten begehbaren Kostümschränke im ersten Stock des Kostümverleihs, durch die sie als Kind bis ins große Berliner Zimmer laufen konnte, wo sich die Nähwerkstatt befand. Über den Geschäftsräumen war der Wohnbereich der Familie mit zwei Zimmern und einem Balkon zur Straße hinaus, der Küche und dem Bad zum Hinterhof. Eine schmale Stiege führte in den Hof, über dem von Fenster zu Fenster eine Wäscheleine gespannt war, an der Kostüme und Uniformen hingen. Später übernahm die Tochter Margarethe mit ihrem Mann die Geschäfte, einige Jahre danach zog Willi Ernst mit seiner Frau vom vierten Stock der Köpenicker Straße ins Sommerhaus in Eggersdorf.

Als der Krieg eskalierte, versuchten Margarethe und ihr Mann den Kostümfundus vor dem Feuer zu retten, das jetzt immer öfter vom Himmel fiel, und flüchteten nach Nauen, wo ein viele der Kostüme russischen Soldaten über den Winter halfen. Das Haus mit dem Geschäft des fleißigen Schneiders in der Köpenicker Straße wurden von den Bomben völlig zerstört, das Grundstück nach dem Krieg von der DDR zum Volkseigentum erklärt. Versuche, den verlorenen Boden nach dem Mauerfall zurück zu erhalten, schlugen fehl. Die Entschädigungssumme für die 280 Quadratmeter in bester Lage wurde 2006 so weit heruntergerechnet, bis am Ende noch 1.6361,34 Euro übrig blieben. Von der alten Bausubstanz der 55 und ihrer Nachbarschaft ist nichts erhalten geblieben. Dort, wo Willi Ernst einst Kostüme verlieh, steht heute ein langgestreckter, millionenteurer Klinkerbau, in dem der Verband deutscher Schriftsteller sitzt.

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