Kreuzberger Chronik
November 2015 - Ausgabe 174

Kreuzberger
Nicola Demmin-Siegel

Ich bin schon als Kind ständig umgezogen


linie

von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Privat

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Es geschah abends, bei Kaisers in der Bergmannstraße, an der Kasse neben den Rocher-Kugeln. Sie erkannte ihn sofort. An der Form des Hinterkopfes, am Profil, selbst wenn er den Kopf nur ein wenig zur Seite wandte. Sie kannte das Gesicht aus der Datei, in der Hunderte von Profilen, Halbprofilen, Porträts waren. Gesichter sind ihr Job, sie kennt fast jeden aus der Datenbank.

Sie zögerte einen Moment, dann sprach sie ihn an. Der Mann drehte sich um und sagte: »Was suchen Sie denn hier?«

»Ein Büro!« , sagte Nicola Siegel. Nicola Siegel weiß, was sie will, und sie weiß auch, wie man bekommt, was man will. Sie legte die Rocher-Kugeln aufs Band.

Gernot Ernst war einer der Schauspieler, die sie unter Vertrag hatte und deren Gesichter sie aus der Datei der Siegel-Models kannte.

»Ein Büro in Kreuzberg?« , fragte er.

Nicola Siegel kam gerne nach Kreuzberg an den Sommerabenden, den Wochenenden. Nicola Siegel ist ein Stadtmensch, Friedenau war ihr zu dörflich, zu beschaulich. Außerdem verkehrten die »interessanten Charakter« eher in Kreuzberg als in Friedenau.

»Der Volker hat gerade einen Zettel ins Schaufenster gehängt, Laden zu vermieten.« Volker Schröder war ein echter Altachtundsechziger und ein echter Kreuzberger. Als er die blonde Nicola sah und von der Agentur hörte, zögerte er einen Moment. Aber Nicola Siegel ist nicht blond, zickig und zimperlich, sie redet Tacheles, und sie erklärte, sie würde die alten Regale des Klempners aus der Wand reißen, den Boden machen und die Wände verputzen. Schröder und Siegel waren sich schnell einig, und einige Monate später, als eines ihrer Models eine Rolle in der Seifenoper Rote Rosen bekam, feierte sie in einer dieser lauen Kreuzberger Nächte ihre Einweihungsparty. Sie stand mit ihren neuen Nachbarn und einigen ihrer Models auf der Straße bei Sekt und Häppchen und Wein, als ein Nachbar von gegenüber mit Eiern nach der kleinen Gesellschaft warf. Man bräuchte in Kreuzberg keine Modelagenturen. Nicola Siegel störte der merkwürdige Kreuzberger nicht, wenig später verlegte sie sogar ihren Wohnsitz in die Kreuzbergstraße. Der langen lauen Kreuzberger Nächte wegen.

Als Nicola Siegel 1999 nach Berlin kam, suchte sie nach etwas anderem. Da war sie noch verheiratet, hatte eine kleine Tochter, und die junge Familie aus München spürte so etwas wie »Angst vor Berlin«. Deshalb kaufte sie sich bei Engel und Völkers ein dreistöckiges Jugendstil-Haus »in einer ganz ruhigen Ecke« von Lichterfelde Ost.

Aber Lichterfelde Ost war nicht das Richtige für eine wie Nicola Siegel, die in München noch leitende Redakteurin des Fernsehsenders Tele 5 gewesen war, und die eine spannende Karriere hinter sich hatte. Sie war gerade 16 Jahre alt, da saß sie mit ihrem wunderschönen Haar in einem Café, und so ein Typ kam herein und sagte, er wolle sie fotografieren, sie sähe so toll aus. Das war »natürlich der Traum jedes Schulmädchens«, das den ganzen Tag – »pinsel, pinsel... - Schminke hier, Tusche da« - mit der Schönheit beschäftigt war. Und der junge Mann im Café war nicht einmal ein Aufschneider, er war tatsächlich Fotograf. Die Fotos wurden super, die beiden beste Freunde und die Mappe mit den Fotos ein Erfolg. Es dauerte nicht lange, da klingelte das erste Mal das Telefon. Man drehte Werbespots mit Nicola, fotografierte sie für die Titelseiten von Liebesromanen, sie war in der Freundin und der Brigitte, manchmal gehörte ihr eine ganze Seite. Schon als Studentin verdiente sie mit ihren kleinen Auftritten in der Werbebranche genug Geld, um sich einen Alfa Romeo zu leisten, und während die Kommilitonen in den Semesterferien jobbten, fuhr sie in den Urlaub. Nach Kapstadt oder nach Australien. Und wenn sie gerade genau gegenüber von München, also auf der anderen Seite der Erdkugel war, und zum Beispiel in Sydney das Telefon klingelte, dann sagte sie: »O.K., ich komme. Aber die Hälfte der Gage will ich gleich nach dem Dreh cash auf die Hand.« Und dann flog sie eben 14 Stunden zurück nach München, schlüpfte für das Maggi Kochstudio zwei Tage lang in die Rolle der blonden Hausfrau, und dann war sie schon wieder weg. Jettete zurück auf die andere Seite der Erdkugel.

Nicola in der Freundin
Nicola in der Freundin
Das ging so lange gut, bis der Dreh mit Rocher-Kugeln kam, bei dem Nicola die süßen Schokokugeln mit verführerischem Lächeln zwischen ihre roten Lippen schieben sollte. In der Schokoladenfirma hatte man für den Werbespot vier extra große Dummis aus echter Schokolade anfertigen lassen, damit man die in der Werbung auch gut sah. Aber als man drehen wollte, waren die vier Dummys weg. Nicola hob die Schultern. »Es gibt Süßes, das legst du auf die Zunge, dann entfaltet sich ein wahnsinniges Geschmackserlebnis, und dann ist es auch schon wieder weg...« Und eines traurigen Tages, nach dem achten Maggi-Clips, sagte der Maggichef: Wenn man Nicola sieht, könnte man glauben, Maggi macht dick. »Und das war mein letzter Dreh!«

Nicola als Teenager in Malle
Aber Nicola Siegel ist nicht zimperlich, sie war gerade mit dem Studium der Kommunikationswissenschaften fertig, da ging TV Weiß-Blau auf Sendung. Die Frau, die vor den Kameras gestanden hatte, wechselte die Position und arbeitete als freie Fernsehjournalistin hinter der Kamera. Sie wurde leitende Redakteurin bei Tele 5, hatte eigene Sendungen, in denen sie sich die Themen, die Interviewpartner und sogar die Moderatoren aussuchen konnte. Sie war es jetzt, die beim Casting den Kopf schütteln oder nicken konnte, wenn Sandra Maischberger zum Vorsprechen kam. Über 200 Magazin-Sendungen hat sie für den bayerischen Privatsender produziert und am Ende mit ihrem »3D-Team« eine eigene Produktionsfirma gegründet.


Diese Frau ist nicht zimperlich und auch nicht zögerlich, aber ein bisschen Zeit brauchte sie schon, um sich zu entscheiden, mit ihrem Mann tatsächlich nach Berlin zu ziehen. Sie hatte viel zu verlieren. Andererseits aber hatte sie jedes Mal gewonnen, wenn sie etwas Neues begann. »Ich bin schon als Kind mit meiner Familie ständig umgezogen. Mein Vater hatte ständig noch bessere Jobs, und damals zog die Familie eben mit. Da wurde nicht gefragt, ob das gut fürs Kind ist.« Für Nicola Siegel war es gut. Sie war in jeder neuen Klasse »gleich der Klassenclown« und fand überall Freunde. Noch dazu schrieb sie gute Noten, und zu allem Überfluss sah sie auch noch gut aus.

Nicola als brave Mami
Aber als sie 1999 nach Berlin kam, gab es in der von Journalisten überfluteten Stadt keinen Job mehr für Redakteurinnen. Nicola Siegel musste sich nach etwas anderem umsehen, und erinnerte sich an die Münchner Agentur »Senior Models«, die nicht nur achtzehnjährige Models und Schauspieler in ihrer Kartei hatte, sondern auch achtzigjährige. So etwas gab es nicht einmal in Berlin. 2003 eröffnete sie als Franchise-Unternehmen ein Büro für »Senior Models« in Berlin.

Nach vier Jahren hatte sie mit 300 eigenen Kunden und 600 Schauspielern und Models eine solide Grundlage geschaffen, um eine eigene Schauspielagentur zu gründen. Doch die Münchnerin protestierte, Nicola Siegel musste einen Anwalt zu Hilfe nehmen. Als er sie fragte, ob sie eventuell bereit sei, ganz auf die Kooperation mit München zu verzichten, sagte sie: »Da geh ich erst mal raus eine rauchen.«

Nicola in den Alpen
Nachdem der Rauch verflogen war, sagte sie »Ja«, gestaltete ihre eigene Website, lud sämtliche Freunde zu einer Mitternachtsparty ein und ging Punkt 24 Uhr online. Gleichzeitig verschickte sie an sämtliche ihrer Models und Kunden die Mitteilung, dass »Senior-Models-Berlin« von nun an »Siegel-Models-Berlin« heiße. Nicola Siegel ist nicht zimperlich, aber einige Tage lang zitterte sie und wusste nicht, was passieren würde. »Aber nicht einer ist abgesprungen!« Zwei Jahre später gründete sie die Schauspielagentur »Vamos Actors« .

Und jetzt ist sie manchmal schon ganz nah dran am großen Filmgeschäft. Für die Hollywoodproduktion »Grand Budapest Hotel« konnte sie Paul Schlase vermitteln, für Fatih Akins »The Cut« Yasar Cetin. Auch »mein Japaner läuft gut!« , sagt die Frau, die früher einen Alfa fuhr. Als sie ihn kennenlernte, sprach er kein Wort Deutsch, sie musste ihm helfen, wenn es ums Arbeitsvisum ging und um den Eintritt in die Künstlersozialkasse. Aber Nicola Siegel weiß, was sie will, und sie weiß, wie man bekommt, was man will. Jetzt hat Yusuke Yamasaki einen Vertrag für 8 Drehtage bei der ARD unterschrieben und spielt Doktor Kitasato, den Assistenzarzt des Mediziners Robert Koch. Und jedes Mal, wenn Yusuke aus Japan zurückkommt, bringt er Nicola Pralinen mit, »die legst du auf die Zunge, und dann entfaltet sich ein wahnsinniges Geschmackserlebnis - und dann ist es auch schon weg...«






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