Kreuzberger Chronik
Juni 2015 - Ausgabe 170

Geschäfte

Schmittis Fische


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von Hans W. Korfmann

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In der Wrangelstraße scheint die Berliner Welt noch in Ordnung zu sein. Es gibt den türkischen Köfte-Burger, ein libanesisches Café, eine deutsche Apotheke und Schmidts Fischgeschäft, das mit einem dicken deutschen, schmollmundigen Karpfen lockt. Der Laden hat zwei Kriege, die Mauer und sogar den Angriff der Immobilienhaie überstanden. Auf der Kreidetafel vor dem Laden und im Schaufenster steht es: »Berlins ältestes Fischfachgeschäft.«

1908 war Großvater Schmidt von der Ostsee nach Berlin gezogen, um den Binnenländlern Fisch zu verkaufen. Doch im Laden steht kein Herr Schmidt mehr. 1999 hat auch der Enkel des Einwanderers von der Ostsee das Fischmesser aus der Hand gelegt und den Laden seiner treuesten Mitarbeiterin übergeben: Ayshe Andiç. Sie hatte schon als kleines Mädchen mit ihrem Bruder immer vor dem Laden des Herrn Schmidt gestanden und den dicken Karpfen in dem großen Aquarium zugeschaut, die dort übellaunig hin- und herschwammen.
Ayshe war begeistert, und eines Tages begann sie, bei dem deutschen Fischhändler Fische auszunehmen und ihnen mit einem kleinen Messer die Schuppen vom Leib zu kratzen. Sie war freundlich und fleißig, sprach die beiden wichtigsten Sprachen des Viertels und war schon bald »die Meerjungfrau« der Wrangelstraße.

1988 stellte Schmidt die junge Frau ein. Heute, 27 Jahre später, steht ein Samowar mit dampfendem Tee neben der Tür. Überall sind hölzerne Segelschiffe und bunte Leuchttürme, Muscheln und Meerestiere aller Art haben sich in den Fischnetzen an den Wänden des Geschäftes verfangen, das ein Fischrestaurant am Bosporus sein könnte. Tatsächlich gibt es vor der Tür zwei Bänke in der Sonne und einen tiefseeblauen Tisch, auf dem ein Schwarm bunter Ölfarbenfische in Richtung Taborstraße schwimmt. Und tatsächlich sitzen im Sommer Touristen aus aller Welt vor frisch gegrilltem Fisch, Fischburgern und Fischbrötchen. Die jungen Leute essen gerne Fisch, denn »Fisch macht sexy« - so steht es, mit einem Smiley versehen, sogar unter der Preistafel.

Der alte Schmidt hätte lieber etwas anderes auf die Tafel geschrieben. Der alte Schmidt verkaufte auch zu Weihnachten »noch eine Tonne Karpfen, heute sind es vielleicht 100 Kilo«, sagt Hakan, Ayshes kleiner Bruder. Und dann ist da noch Ismail, der Koch mit der Pudelmütze, den alle »Easy« nennen, weil er immer das gleiche sagt, wenn sich jemand aufregt: »Take it easy!«

Auch Hakan nennen sie nicht Hakan. Jedenfalls nicht die Deutschen, die seit hundert Jahren kommen, immer freitags. Die sagen einfach »Schmitti« zu Hakan. Vielleicht, weil der alte Schmidt, nachdem er den Laden 1999 seiner »Meerjungfrau« vermacht hat – »unter der Bedingung, dass der Name Schmidt bleibt« – immer noch mitgeholfen hat im Laden. »Ohne Geld. Fisch war sein Leben«, sagt Schmitti. Der brauchte den Fischgeruch. »Wenn er abends nachhause musste, hatte er eine Träne im Auge.« Aber eines Tages, nach zwei Jahren, sagte er: »Ok! Jetzt könnt ihr alleine schwimmen.«

Natürlich behielt er das Geschäft im Auge. Den Samowar haben die türkischen Geschwister erst vor Kurzem aufzustellen gewagt. Und mit dem Imbiss und dem Tisch vor der Tür haben sie gewartet bis zum Hundertjährigen. Aber die Fische auf dem Eis liegen immer noch so da wie früher, der dicke Kabeljau, die flache Flunder, der rote Lachs und der braune Thunfisch. Nur die Karpfen schwimmen nicht mehr. »103 Jahre lang sind hier die Karpfen geschwommen. Und dann kamen die Tierschützer und neue Auflagen aus Brüssel!« Jetzt stehen eben keine Kinder mehr vor der Fensterscheibe und schauen diesen grauen Gestalten zu, die so seltsam ruhig durchs Leben ziehen.
Aber sonst sind sie alle noch da, der Saibling, die Forelle, der Zander, der Stör, lauter wunderbare Fische. So frisch, dass Ralf Zacherl, der Sternekoch, bei den Schmittis kauft, und Alice Sara Ott, die berühmte Pianistin. Die Kundschaft hat sich verändert, am Anfang waren es deutsche Hausfrauen, denen sie Kabeljau und Süßwasserfische verkauften, dann kamen die Türken und die Mittelmeerfische, und jetzt die Japaner, die Thunfisch für 50 Euro kaufen. Sogar der Bundespräsident war da und Schmitti sagte: »Also, irgendwoher kenne ich Sie doch!?«, woraufhin Gaucks Frau fragte, ob Schmitti denn nicht Fernsehen schauen würde. Dazu habe er keine Zeit, sagte der junge Türke. »Ob er denn nicht Zeitung lese?« Dazu habe er auch keine Zeit. »Die wollte mir partout nix verraten, aber ich habe ihren Mann so lange vollgetextet, bis er es mir irgendwann gesagt hat.«

Der alte Schmidt hatte nie solch hohen Besuch. Er hätte sich gefreut. Vielleicht hätte er dem Präsidenten sogar ein Fischbrötchen geschenkt. Obwohl er so etwas eigentlich nicht machte. Nicht einmal bei der Meerjungfrau. Wenn sie Fisch mit nachhause nehmen wollte, bekam sie Prozente, so wie alle Mitarbeiter. Geschenkt bekam sie nichts. »Er war so ein richtiger Deutscher!« Immer korrekt.

Hakan trocknet seine Hände mit einem Handtuch. Dann springt er in den Lieferwagen, er muss noch mal los, Fisch kaufen. Sie kaufen noch bei den gleichen Händlern wie der alte Schmidt, kennen die Fischer in Bremerhaven und an der Ostsee. Wenn die gut gefangen haben, rufen sie an. »Wir kaufen nicht im Großhandel, wir kaufen kleine Mengen«, mal hier, mal da. Sie sind wählerisch wie der alte Schmidt.

Er war jetzt schon lange nicht mehr da, der alte Schmidt. Seine Frau, »die haben wir ja schon vor ein paar Jahren verloren.«, sagt Hakan. Er macht sich Sorgen um den alten Mann. »Die zwei waren so was wie unsere deutschen Eltern.« Irgendwann einmal müssen diese Eltern am Küchentisch gesessen und darüber nachgedacht haben, wem sie das alles anvertrauen könnten. »Der Fisch war doch sein Leben«, sagt Hakan. »Jetzt ist er unser Leben.« •


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