Kreuzberger Chronik
Juli 2015 - Ausgabe 171

Strassen, Häuser, Höfe

Die Adalbertstraße 95a


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von Werner von Westhafen

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Das Haus mit der Nummer 95 hatte Glück: Während das angrenzende Gebäude im Krieg zerstört und zum Parkplatz wurde, blieb die 95 weitgehend erhalten. Die Brandwand aber, die an die Nummer 96 gegrenzt hatte und nun frei lag, wurde in den Achtzigerjahren zur Plattform für den Protest gegen ein geplantes Kraftwerk in Neukölln. Auch auf dem Hinterhaus verkündeten die Mitarbeiter eines kleinen Verlages in großen Lettern den Anbruch eines neuen Zeitalters und schrieben »Elefanten« auf die schmucklose Rückwand: Auf der anderen Seite des Hofes hatte die seinerzeit legendäre Elephanten Press hatte ihre Büros.

Heute erhebt sich an der Stelle des Schriftzuges der Anbau eines gläsernen Treppenhauses, das in die historische Druckerei, das Archiv und die Ausstellungsräume des Museums führt. An die Seite des Vorderhauses schmiegt sich noch immer der schmale Streifen eines kleinen Nutzgartens, in dem Tomaten und Paprika eines türkischen Landmannes seit Jahren schon der Unwirtlichkeit des Berliner Klimas trotzen. Auch der Seitenflügel ist inzwischen vom Museum besetzt, und unter dem Dach, wo einst freie Journalisten und das »Kulturbüro« residierten, finden heute Veranstaltungen des Musems statt.

Dabei hatte das Haus nach dem Krieg kaum Überlebenschancen. Schon vor dem Krieg war es in einem vernachlässigten Zustand gewesen, die Bewohner beschwerten sich über die sanitären Anlagen und den bröckelnden Stuck. Doch der Österreicher, der das Haus 1923 von einem gewissen Gustav Gans gekauft hatte, zeigte wenig Verständnis für die Klagen der 60 Bewohner und 40 Arbeiter aus den Fabriketagen des Hinterhauses, die sich ein kleines »Apartmenthäuschen« im Hinterhof mit sechs Stehtoiletten teilen mussten. 13 Jahre lang kämpften sie, bis sich Carl Schulz, der neue Besitzer, bereit erklärte, Podesttoiletten im Treppenhaus einzurichten. Das hölzerne Apartment diente noch in den Fünfzigerjahren den schwankenden Gästen der Schankwirtschaft, den Arbeitern im Hinterhaus und den spielenden Kindern im Hof zum Verrichten ihrer Notdurft und war für viele Nachbarn in der Straße oft die letzte Rettung.

In den goldenen Zwanzigern hatte C. Klimkowsky eine Spur von Glanz in den lichtscheuen Hof mit dem Toilettenhäuschen gebracht. Klimkowsky hatte in der 4. Etage des Hinterhauses seine Fabrik für »Taschentoilets und Tresors«. Die mit vielen Perlen bestickten Damenhandtäschchen gehörten zum Stil der feineren Gesellschaft. Doch der Glanz im Hof hielt sich nicht lange. Als 1927 in der Tischlerei unter Klimkowsky ein Feuer ausbrach, konnte sich der Kleinunternehmer mit seiner sechzehnköpfigen Großfamilie erst in letzter Minute retten. Nach dem Brand untersagte die Polizei die Nutzung der Fabriketage als Wohnraum. Lediglich eine feuersichere Zwischendecke hätte den Standort des Fabrikanten noch retten können.

Doch zu derartigen Umbauten hatte Carl Schulz keine Lust. Überhaupt brachte das Mietshaus in der Adalbertstraße dem Wiener Hausbesitzer kein Glück. 1941 holten ihn die Nationalsozialisten von dort ab, und noch im selben Jahr wurde das Haus in der Adalbertstraße versteigert. Ein gewisser Johannes Zietlow aus Frohnau erwarb es für 52.000 Reichsmark, während Schulz mit seiner Schwester und deren Kindern im Konzentrationslager ermordet wurde.

Hitler veränderte auch das Leben im Haus, ein Tischler und ein Sargschreiner richteten in der Nummer 95a ihre Werkstätten ein. Nur dort, wo einst die kleinen Damenhandtäschchen hergestellt worden waren, verschönerte die »Knopffärberei Erich Zeller« das Leben mit glänzendem Perlmutt, Kunsthorn oder Glasperlen. Als Zietlow das Haus 1967 an die berüchtigte Gewerbesiedlungsgesellschaft GSW verkaufte, wurden die Zustände nicht besser. Die Gesellschaft ließ das Haus weiter verfallen, wieder beschwerten sich die Mieter über unhaltbare Zustände. Ein Polizeiprotokoll bestätigt die Ohnmacht eines Mieters, der beim Betreten seiner Küche das Bewusstsein verlor, da aus den alten Leitungen giftige Dämpfe drangen. Die ersten Ziegel flogen davon, und 1978 brannte sogar der Dachstuhl. Obwohl die Fabriketagen längst leerstanden, interessierten sich nicht einmal die Hausbesetzer der Achtzigerjahre für dieses marode Gebäude in der Adalbertstraße.

Das Haus mit der Nummer 95, das 1857 entstand, als man die Sümpfe im Süden Berlins entwässerte und auf den Dämmen große Straßen anlegte, war nie ein wirklich vornehmes Haus gewesen. Aber mit seinen klassizistischen Fassaden und seinen Pilastern bot das Vorderhaus einen respektablen Anblick. Vor dem zweistöckigen Seitenflügel lag ein »Gartenterrain« mit einem »Gartenhäuschen«, und zur Wasserversorgung gab es eine eigene Pumpe im Hofgarten.

Anders als Carl Schulz hatte Gustav Gans mit dem Grundstück am Tor sein Glück gemacht. Die Mieten stiegen Mitte des 19. Jahrhunderts so rasant, dass er beschloss, den Seitenflügel aufzustocken. 1879 erhöhte er von zwei auf fünf Stockwerke und ließ ein ebenfalls fünfgeschossiges Quergebäude errichten, in das neben einem Schlosser und anderen Handwerksbetrieben vor allem Tischler einzogen, denen es beim Ausbau des neuen Stadtteils nicht an Aufträgen mangelte. Das Hinterhaus wurde zum »Haus der Tischler«.

Und während hinten gesägt und gehobelt wurde, wohnten im Vorderhaus die feineren Leute. Im Hof dazwischen aber war die Trennung aufgehoben, in dem kleinen, hölzernen Apartment standen sie wieder alle beisammen: Die Mieter aus dem Vorderhaus, die Gäste aus der Bierschenke und die Arbeiter aus dem Hinterhaus. •


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