Kreuzberger Chronik
Februar 2015 - Ausgabe 166

Geschichten & Geschichte

Ziegel vom Kreuzberg


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von Werner von Westhafen

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Der Kreuzberg vor der Parkanlage










Es war die Zeit, als das Land noch voller Wiesen, Felder und Wälder war, und wer von Teltow im Süden nach dem Barnim im Nordosten wollte, der musste, um die Spree zu überqueren, im Osten über Köpenick oder im Westen über Spandau reiten, wo es die Brücken gab. Wer es aber besonders eilig hatte, der wählte im Sommer, wenn das Wasser nicht zu hoch stand, eine Furt, die nördlich des Dörfchens Tempelhof eine Überquerung der Spree ermöglichte. Diese Furt wurde mit der Zeit so beliebt, dass man eines Tages eine Brücke über sie schlug. Wenige Jahre später füllte man das hölzerne Bauwerk teilweise mit Erdreich und Steinen auf und schleuste das sonst so träge fließende Wasser durch einige wenige Öffnungen, an denen die komprimierte Wasserkraft nun einige Mühlenflügel drehen konnte. So entstand der Mühlendamm, und an den beiden Enden dieses Damms entstanden zwei kleine Dörfer: Cölln und Berlin.

Immer mehr Flößer tauchten nun auf dem kleinen Fluss auf, der inmitten des alten Eisbettes zurückgeblieben war. Sie kamen von den Müggelbergen herunter und ließen sich bis nach Spandau treiben, wo das Flüsschen in die Havel mündete. Die Flößer brachten nicht nur Getreide zum Mahlen an die Mühlen, sie brachten auch Holz und Kalk und Sand für den Bau von Häusern. Nur Steine brachten sie keine. Obwohl sich in der flachen Landschaft kaum Steine zum Häuserbau finden ließen - abgesehen von ein paar Felsblöcken, die von den schmelzenden Eismassen von so weit her in das Berliner Urstromtal geschwemmt wurden, dass sie auf ihrer langen Reise schon ganz rund und unbrauchbar geschliffen worden waren. So wie den Beduinen in den sandigen Wüsten blieb den Architekten Berlins nichts anderes übrig, als aus lehmhaltiger Erde Steine zu brennen.

Zu den ersten Bauherren an der Spree gehörten die Bettelmönche eines Franziskanerordens. Die Männer in ihren schlichten grauen Kutten sich entschlossen, nahe beim Mühlendamm ein großes Kloster zu errichten. Doch nicht einmal Lehm gab es in den Sümpfen nahe der Spree. Lehm fanden sie erst ziemlich weit im Süden der Stadt, am heutigen Kreuzberg. Also begannen die fleißigen Gottessöhne damit, Löcher in den Lehmberg zu graben. In hölzernen Karren transportierten sie den Baustoff zu einem Ofen, der am Fuß des Berges lag. Sie vermischten den Sand mit Wasser, pressten den Kreuzberger Lehm in kleine Formen und brannten ihn zu kleinen gelben Ziegelsteinen. Jahrelang stolperten die Pferdefuhrwerke mit den Steinen vom Kreuzberg die Lindenstraße hinunter, „die noch mitten durch freies Feld führte und nirgendwo ein Haus berührte“, bis hin zum Mühlendamm, wo zwischen der Stadtmauer und der Klosterstraße als eines der ersten stattlichen Häuser der Stadt allmählich das Graue Kloster in die Höhe wuchs. Fast drei Jahrhunderte lang blieb das Haus im Besitz der Franziskaner, und auch später noch war der Ziegelbau das geistige Zentrum der Stadt. Als 1571 der letzte Franziskaner starb, zog das Berlinische Gymnasium in die alten Gemäuer, dessen berühmteste Schüler Otto von Bismarck und Friedrich Schinkel hießen.

Irgendwann war die Zeit, als man vom nördlichen Rand der Teltower Ebene noch über Wiesen und Felder bis zur Spree blicken konnte, vorüber. Die beiden Dörfchen am Mühlendamm waren längst zusammengewachsen, im Süden wurden Dämme aufgeschüttet, auf denen man trockenen Fußes durch die Sümpfe kam, und auf denen später große Straßen entstanden, die noch heute Kottbusser Damm, Tempelhofer Damm oder Mehringdamm heißen. Aus dem ehemaligen Lehmberg war ein Weinberg geworden, und aus dem Weinberg später ein Bierberg. Brauereien ließen sich auf dem Hügel mit seinem kühlen Lehm nieder, und wo einer der Winzer einst seinen „Dusteren Keller“ in den Sand gegraben hatte, um den Saft kühl zu halten und Gäste erfrischen zu können, entstanden Bierkeller und Gartenlokale.

Der Süden Berlins wurde allmählich zu einem Viertel mit Tanzsälen und Freizeitattraktionen, und nicht erst seit dem Fall der Mauer, sondern schon im 19. Jahrhundert reihten sich an der Kreuzbergstraße und der Bergmannstraße bis hin zur Hasenheide die Vergnügungslokale aneinander. Auch an der steilen Katzbachstraße, die nach Tempelhof hinauf führt, gab es einige Bier- und Weinlokale. Eines davon erinnerte noch am Anfang des 20. Jahrhunderts daran, dass der Kreuzberg ein Lehmberg ist, und dass hier einst jene Ziegel gebrannt wurden, aus denen Berlin gebaut wurde: Es hieß „Zur Lehmkute“.

Doch nicht alle Wein- und Biertrinker vom Kreuzberg glaubten an die Legende von der Lehmkute, immer wieder stritt man darüber, bis endlich „in einem Garten an der heutigen Kreuzbergstraße ein sehr alter Baum“ gefällt und beim Ausgraben der Wurzeln „im Boden tatsächlich ein Ziegelherd“ im Erdreich gefunden wurde – „und zwar mit Steinen daneben, die in Format und Festigkeit genau denen glichen, aus denen die Klosterkirche gebaut ist.“ Und auch in der alten Klosterkirche fand der lateinkundige Leser vor dem II. Weltkrieg noch einen Beweis dafür, dass nicht alles nur Legende ist, was die Namen der Gastwirtschaften am Kreuzberg erzählen: Auf einer Gedenktafel stand, dass „der edle Ritter Usbede“ im Jahre 1290 den bettelnden Mönchen in ihren grauen Kutten „die Ziegelei, die zwischen Tempelhof und Berlin liegt“, schenkte. Sechseinhalb Jahrhunderte hielten die Ziegel vom Kreuzberg das einst älteste Gebäude Berlins zusammen. Dann fielen im April 1945 die Bomben. Die Ruine des alten Kirchenschiffes ist bis heute erhalten, die Überreste des Klosters aber mit den Ziegelsteinen vom Kreuzberg wurden Anfang der Sechzigerjahre dem Erdboden gleichgemacht. •

Literaturnachweis: Streifzüge durch Berlin, Rund um den Kreuzberg, Quelle und Meyer Verlagsbuchhandlung, Leipzig



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