Kreuzberger Chronik
März 2014 - Ausgabe 156

Kreuzberger
Boris von Brauchitsch

Kreuzberger Tage sind kurz


linie

von Hans W. Korfmann

Fotos: Wolfgang Krolow

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Vor zehn Jahren entschloss sich von Brauchitsch, wieder nach Berlin zu ziehen. Vor fast dreißig Jahren hatte er Berlin verlassen, aber lange noch hing in seiner Frankfurter Wohnung an der Wand über dem Bett der Schlüssel zu seinem Berliner Zimmer, das er unbedingt behalten wollte. Nur leben wollte er nicht in dieser lauten, unruhigen Stadt, die »Kreuzberger Tage waren zu kurz«, die Nächte zu hell und zu bunt für einen, der Museumsdirektor werden wollte.

Auch wenn das vermeintliche Berufsziel vielleicht nur ein »Trotz« war gegenüber den Skeptikern mit ihren biederen Lebensentwürfen inklusive Lebensversicherung und Beamtenstatus. Aber wenn sie ihn in Frankfurt fragten, warum er ausgerechnet Kunstgeschichte studieren müsse, - diese brotlose Kunst, dieses »Brave-Mädchen-Studium« - dann führte er immer wieder den Museumsdirektor ins Feld. Und dann ließen sie ihn in Ruhe.

Er hätte auch »Schriftsteller« oder »Fotograf« sagen können. Schließlich waren die Eltern erfolgreiche Fotografen, Kulturschaffende aus Passion. Mit dem VW-Käfer durchkreuzte die Familie viele Sommer lang Italien, immer auf der Suche nach Museen, Tempeln, Kirchen, immer auf der Spur der Kultur. Die Adria war nicht weit, aber »ich kann mich an keinen Badeurlaub erinnern.« Noch heute sind leere, weiße Bacardi-Strände für ihn reizlos: »Da gibt‘s keine Menschen, keine Bar, nicht mal Schatten zum Lesen!«

Findus und Marx
Was also blieb dem Jungen bei so viel Kultur übrig, als in die Fußstapfen des Vaters zu treten, der später gern erzählte, er habe den Kleinen immer aus der Dunkelkammer zerren müssen, damit er wenigstens ein paar Sonnenstrahlen abbekäme. Boris entwickelte, belichtete und retuschierte. Er kannte schon früh diesen magischen Augenblick, wenn im Licht der roten Birne auf dem weißen Papier die ersten Linien erschienen, die Bilder Gestalt annamen, die er aus Neapel, Florenz, Rom mitgebracht hatte. Aber er lernte nicht nur das Handwerk. »Ich habe von meinen Eltern das Sehen gelernt«, sagt Boris von Brauchitsch und sucht in seinem Grafikschrank nach dem, was er sein erstes gutes Foto nennt, aufgenommen mit neun Jahren: Es zeigt Linus, den Kater eines Freundes seiner Eltern, der damals als guter Juso seinen Marx über dem Kamin hängen hatte. Später wurde der Juso Moderator beim ZDF und erklärte zur besten Sendezeit im Wirtschaftsmagazin »Wiso« deutschen Aktionären die Spielregeln des Kapitalismus.

Boris von Brauchitsch hat eine weitläufige und schillernde Verwandtschaft. Gern verweist er darauf, dass die preußische Offiziersfamilie neben seinen Eltern noch andere Kreative wie den Archäologen Georg, die Jugendstildesignerin Margarethe oder den Fotografen Ernst von Brauchitsch hervorgebracht hat, dessen Stadtansichten aus der Zeit um 1900 ihren Platz im Märkischen Museum gefunden haben. Auch Schriftbegabte tauchen in der Familie auf: Der Flick-Manager Eberhard, eines der pragmatischeren Familienmitglieder, verkaufte seine Memoiren beinahe so erfolgreich wie der Millionenbetrüger Schneider, und auch Großonkel Manfred, der sich als Rennfahrer mit den legendären Silberpfeilen in die Herzen der automobilsportbegeisterten Deutschen schoss und Caracciola Paroli bot, konnte aus seinen Memoiren Kapital schlagen. Boris von Brauchitsch hegt eine gewisse Sympathie für den Rennfahrer, der sein Buch in einem Ost-Berliner Verlag veröffentlichte, sich angeblich sogar mit dem Staatschef Walter Ulbricht traf, woraufhin er von den Westdeutschen prompt des Hochverrats verdächtigt wurde. Seine Erinnerungen wurden von der DEFA aufwendig verfilmt, nachdem er als politisch Verfolgter 1955 bei Nacht und Nebel über die Grenze in den Osten geflohen war. Hätte der Rennfahrer seine Memoiren nicht selbst geschrieben, dann hätte es womöglich sein Großneffe Boris getan.

So aber vertiefte sich der schriftbegabte Großneffe für den Suhrkamp-Verlag in das Leben Leonardo da Vincis, Michelangelos oder Caravaggios und schrieb kurzweilige Biografien, in denen die Spuren der Italienreisen bis heute spürbar sind. Auch zwei Romane hat er veröffentlicht, in denen der Wissenschaftler das Korsett realer Biografien abwerfen und seiner Phantasie freien Lauf lassen konnte. Doch wäre er ein einfacher Schriftsteller geworden, dann hätten die Frankfurter Skeptiker womöglich sagen können: Und dafür hast du nun so viele Jahre Kunst studiert! Deshalb war er zwischendurch dann auch mal Museumsdirektor – zwar nur in der bayrischen Provinz, aber immerhin: Er hat Wort gehalten.

Dass er, gerade mal 31 Jahre alt, tatsächlich als Gründungs-Chef für das kunsthaus kaufbeuren verpflichtet wurde, damit hatte er nicht wirklich gerechnet. Immerhin gab es hundert andere Bewerber, aber das Schicksal schien seinen planmäßigen Lauf nehmen zu wollen.

Allerdings überwarf sich der neue Direktor noch vor Eröffnung mit dem Stifter des Museums, einem übellaunigen Allgäuer Bauunternehmer. Zu schnell durchschaute von Brauchitsch, wie alle kulturpolitischen Fäden des Ortes beim Sponsor zusammenliefen und sich zu einem unentwirrbaren Knäuel, einem ungesunden Geschwür verdichteten, das jeder Art von kulturellem Wagnis im Wege stand. Dennoch hielt er beinahe drei Jahre lang die Stellung und sorgte im stillen Allgäu für einige Aufregung, indem er Dokumentarfotografien über Armut in Deutschland zeigte oder eine Ausstellung zum Thema »Heimat«, die weniger von röhrenden Hirschen und dafür mehr vom Obersalzberg und der Geschichte der Kaufbeurer Psychiatrischen Anstalt handelte. »Ich wollte nie provozieren, ich zeigte einfach das, was ich selbst sehen wollte«, sagt von Brauchitsch. Nur für Ausstellungen impressionistischer Blumenstillleben war er nicht zu haben. »Ich musste verantworten und vertreten können, was ich da machte, denn es stand ja auch überall mein Name drauf. Und eins war klar: Wenn sich deine Kritiker erst mal eingeschossen haben, dann helfen auch keine Kompromisse mehr. Glücklicherweise gab es einen harten Kern an Fans. Ohne den hätte ich sicher schon früher die Segel gestrichen«.

Foto: Wolfgang Krolow
So aber blieb er. Er blieb sogar dann noch, als er gar kein Museumsdirektor mehr war. Denn es lebte sich eigentlich nicht schlecht in dem »schönen Haus mit Dachterrasse und Blick auf die kleine Kapelle am Berg«. Und wenn er Freunden von den Provinzkultur-Possen erzählte, dann sagten sie: Schreib das doch mal auf! Also begann er auf seinem Balkon mit Bergblick den ersten Roman, der den selbstironischen Titel »Perlen vor die Säue« trägt. Und der sich prompt zur Kultlektüre im Ländle zwischen Klöstern und Kühen mauserte.

Gleichzeitig aber nutzte Boris von Brauchitsch seinen Balkon für ein erstes Kunstbuch. In einem Bildband, erschienen bei DuMont, stellte er eine »Galerie des 20. Jahrhunderts« zusammen, die es so in einem Museum nie geben konnte: Jedes Jahr von 1900 bis 1999 durch ein bedeutendes Bild vertreten, entstand ein eleganter und konzentrierter Bilderbogen, ein Blick auf die Kunst eines Jahrhunderts im Zeitraffer. Doch nicht immer waren die Auftraggeber etablierte Verlage, von Brauchitsch sucht die Außenseiter der Branche, die engagierten Kleinverleger, bei denen seine skurrilen Schriften erscheinen, in denen er etwa mit bemerkenswerten Argumenten und einer guten Portion Ironie bestreitet, dass der berühmte Renaissance-Architekt Alberti überhaupt gelebt hat, oder in denen er Alltagsprodukte mit Künstlernamen wie Bellini oder Carpaccio als Kunstwerke ernstnimmt und entsprechend würdigt.

In seinem Bändchen »Man sieht nur, was man weiß«, führt er anhand von sieben Gemälden von der Frührenaissance bis zur Abstraktion vor, wie die beliebtesten Hohlformeln der Kunstsprache auf wirklich jedes Bild passen. Siebenmal sehen wir denselben Text, und jedesmal scheint er das Bild genau zu interpretieren.

2012 veröffentlicht er den Katalog zur documentale 14, einer internationalen Großausstellung, die es nie gegeben hat. Alle Künstler und Werke waren frei erfunden. Dennoch tourte die Show durch Galerien in Berlin, Frankfurt und Basel und feierte bei einer Matinee in Kassel die Verleihung der documentale Awards. Die gelungene Satire auf den Kunstbetrieb brachte Boris von Brauchitsch den Auftrag ein, über die große Schwester der documentale, die documenta, ein Theaterstück zu schreiben. Es soll im Mai am Staatstheater Kassel seine Premiere haben.

Foto: Wolfgang Krolow
Boris von Brauchitsch ist eben eher ein Künstler als ein Kurator oder Museumsdirektor, eher der Praktiker als der Theoretiker. Vielleicht musste er deshalb auch eines Tages wieder zurückkommen nach Berlin. Damals, als Frankfurter Student, als er sich von seinem Westberliner Zimmer nicht trennen konnte, hatte er immer wieder den Nachtzug genommen, nur um nach acht Stunden Fahrt morgens früh am Bahnhof Zoo in dieser grauen, melancholischen Stadt wieder auszusteigen, die eine andere Welt für ihn war.

Aber bleiben konnte er nicht. Boris von Brauchitsch hatte keine Lust auf eine Berliner Existenz: »Ich kannte genug solcher Typen, die irgendwo in einer dunklen 5-Zimmer-Altbauwohnung als Lebenskünstler Jahre vor sich hinwurstelten. Die kamen sich alle genial, cool und geheimnisvoll vor. Dabei war ihr einziges Geheimnis, woher sie die vierhundert Mark für die Miete nahmen«.

»Vielleicht, wenn ich mal fünfzig bin!«, hatte er sich gesagt, als er im Sommer 2004 in der Fidicinstraße vor den alten Fassaden stand. Die Straße war ihm zu gepflegt, das sah aus wie Wien. Dafür war er noch nicht reif.

Aber plötzlich ging alles ganz schnell. Gegenüber des alten Wasserturms stand eine Wohnung leer. Zwei Zimmer, alte Dielen, Balkon. Es könnte sein, dass er diesmal bleibt. Dass er immer wieder an diesen kleinen Küchentisch zurückkehrt, an dem er so oft sitzt und schreibt, wenn er heimkehrt von seinen Reisen mit der Kamera, oder von den warmen Wintermonaten auf einer Insel der Kanaren. Boris von Brauchitsch scheint Frieden geschlossen zu haben mit dieser Stadt, in der die Tage so kurz sind. •



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