Kreuzberger Chronik
Dez. 2014/Jan. 2015 - Ausgabe 165

Strassen, Häuser, Höfe

Die Wilhelmstraße 136


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von Werner von Westhafen

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Das Haus mit der Nummer 136 vereinte alles unter einem Dach: Es war Wohnhaus, Geschäftshaus, Kirche, Gemeindehaus und Schule.

Womöglich war es kein Anzeichen plötzlicher Schwäche, wenn König Wilhelm I. sich nach langem Grübeln entschloss, die böhmischen Einwanderer bei ihren Siedlungsplänen zu unterstützen. Er brauchte diese eifrigen Leute, weil die geizigen und faulen Berliner seinen großen Plänen von der großen Stadt im Wege standen. Er hatte sich sehr ärgern müssen über seine Untertanen, die sich vehement weigerten, ihre Grundstücke entlang der neuen, bis zum Halleschen Tor reichenden Wilhelmstraße mit repräsentativen Wohnhäusern zu bebauen, obwohl er ihnen seine Unterstützung bei der Beschaffung von Baumaterialien zugesagt hatte. Immer wieder war er, trotz fortschreitender Gicht und eines lahmen Beines, persönlich in der Straße erschienen, um den Fortschritt der Bauarbeiten zu inspizieren, woraufhin die Grundstücksbesitzer wie die Hasen die Flucht ergriffen. Mehr als einmal soll der wütende Regent sich einen der Angsthasen herausgegriffen und mit dem Stock verprügelt haben, und als die Bauarbeiter es wagten, wegen der schlechten Bezahlung eine Stunde lang zu streiken, griff er zwei von ihnen heraus und ließ sie hängen.

Der Geheime Kriegsrat Hanff entging sowohl der Prügelstrafe als auch dem Tode durch Erhängen, denn auf seinem Grundstück mit der Nummer 136 befand sich bereits ein lang gestrecktes, wenn auch nur einstöckiges Gebäude. Womöglich war es der König selbst gewesen, der für seinen Geheimrat in die Rolle des Maklers schlüpfte und ihm eine Gruppe von Käufern zuspielte, die ihm nicht nur brave Untertänigkeit versprochen hatten, sondern Grundstücke suchten, um Häuser zu bauen: Die böhmischen Einwanderer. So wechselte 1751 das Grundstück für 3600 Taler den Besitzer, und die »hundsföttischen Kolonisten«, die bereits mehrere zweistöckige Häuser in der südlichen Wilhelmstraße gebaut hatten, kamen in Besitz eines Grundstückes, das von der Wilhelmstraße bis zur Königgrätzer-, der heutigen Stresemannstrae reichte, die damals noch eine namenlose Gasse war. 100 Jahre später errichteten die böhmischen Brüder auf dem hinteren Teil dieses Grundstückes zwei große, vierstöckige Mietshäuser mit der vornehmen Adresse »Königgrätzer Straße 91 & 92«.


In dem alten Gebäude an der Wilhelmstraße richteten die Einwanderer Wohnungen, ein so genanntes »Gemeinehaus« und eine Schule ein. Die Mädchenschule, deren Klassenräume im ersten Stock lagen, war eine der ersten ihrer Art und erfreute sich allgemeiner Beliebtheit in der südlichen Friedrichstadt. Auch einen »Betsaal« gab es im Haus, der etwa 100 Jahre später von einer Kirche mit vier hohen Bogenfenstern abgelöst wurde, die im Pfarrhof unter der alten Linde entstand. Zu ihrer feierlichen Einweihung erschien sogar der 4. Friedrich Wilhelm nebst Gattin, und in den Memoiren, die von allen Mitgliedern der Brüdergemeinde an ihrem Lebensende verfasst werden sollen, fehlt es nicht an Poesie, wenn von diesem Fest und vom Leben im »Hof der 136« gesprochen wird: »In den Lauben und auf den Bänken saßen bei schönem Wetter unsere strickenden Schwestern«, und am Sonntag kamen die Nachbarn zum »Kaffeestündchen« und zum »Krockettspiel.« Dieser Hof war eine »Oase der Ruhe«.

Auch geraucht wurde im Hof, denn gleich links neben dem Eingang mit den sechs Granitstufen lag der Zigarrenladen des Herrn Just, eines »kleinen, lebhaften Bruders«, zu dessen Kundschaft nicht nur Fürst Bismarck, sondern auch der Nachbar auf der anderen Seite des Flurs gehörte: Bruder Bourqhin. Wenn die Schülerinnen sein Amtszimmer betraten, dann schlug ihnen »zunächst einmal eine dicke Tabakswolke entgegen, und erst nach geraumer Zeit konnte man seinen Umriss erkennen.« Zur Weihnachtszeit aber verströmte die Wohnung nicht nur den würzigen Geruch schwarzer Tabake, sondern auch den süßen Duft der legendären Herrnhuter Pfefferkuchen.

Vielleicht war es der Geruch des Backwerks, der zu Weihnachten die dampfenden Gäule der Kutscher in die Wilhelmstraße lockte. Das 20. Jahrhundert war angebrochen, die Hochbahn längst in Betrieb, aber bei den altmodischen Brüdern aus der Wilhelmstraße fuhren zu Weihnachten noch die Droschken vor.
Foto: Brüdergemeine Rixdorf
Denn im Hof der 136 feierten die Berliner Droschkenkutscherkinder Weihnachten, und draußen auf dem Pflaster »scharrten und wieherten die abgestellten Gäule in ihren Equipagen«, um spät nachts »ratternd durch den alten Torweg zurück in die Großstadt« zu rollen.


Foto: Brüdergemeine Rixdorf
1923 wurde die Schule geschlossen, es gab genügend andere, modernere Lehranstalten. Die kleinen Klassenräume wurden zu Wohnungen umgebaut, in die größeren zogen Handwerksbetriebe, im ersten Stock probte ein Chor. Nur die Kinder und Enkel des Tabakhändlers Just wohnten in den goldenen Zwanzigerjahren noch im Haus. Dann kam der Krieg, Bomben fielen und zerstörten die »Oase der Ruhe«. Die Brüder errichteten eine hölzerne Notkirche, doch im Sommer saßen sie noch immer zwischen den Mauern ihrer alten Kirche unter freiem Himmel und beteten. Sie hätten ihre Kirche wohl wieder aufgebaut, doch der Baustadtrat Hans Scharoun wollte eine gewaltige Autobahn, mitten durch das Haus der Brüdergemeinde. So gelangte das Grundstück mit der Nummer 136 nach 200 Jahren wieder in die Hände der Stadtoberen, die 1961 die Reste der Kirche in einer Staubwolke untergehen ließen. Die Autobahn wurde nie gebaut, da- für befindet sich heute etwa an gleicher Stelle die SPD- Zentrale : das Willy-Brandt-Haus.•




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