Kreuzberger Chronik
Dez. 2014/Jan. 2015 - Ausgabe 165

Geschichten & Geschichte

Die Ankunft der Böhmen


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von Werner von Westhafen

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Sie kamen aus dem Riesengebirge, barfuß, mit einem Bündel von Habseligkeiten auf dem Rücken - und wollten nach Berlin.


Es waren nicht nur die Hugenotten, die wegen ihres Glaubens im 18. Jahrhundert die Heimat verließen und nach Berlin kamen, wo sie vom König freudig begrüßt und dazu ermutigt wurden, die Oranienstraße zu bauen und ein eigenes Viertel zu gründen. Etwa fünfzig Jahre später ließen sich Einwanderer aus Böhmen in der Wilhelmstraße nieder. Sie litten unter der »böhmischen Erbuntertänigkeit« und der Willkür der Habsburger, die Bauern und Handwerker wie Leibeigene behandelten. Insbesondere die eigensinnigen Anhänger der Brüdergemeinde, die schon lange vor Luther eine Reformation gefordert hatten, waren den Regierenden ein Dorn im Auge. Einige von ihnen traten in kleinen, unauffälligen Gruppen, barfuß oder in Holzpantinen die lange Wanderung über das Adlergebirge an und ließen sich in den ländlichen Regionen Schlesiens und der Oberlausitz nieder, wo sie unter anderem die Herrnhuter Gemeine gründeten. Doch auf dem Land gab es keine Arbeit für so viele Brüder und Schwestern, und so erreichte im Oktober 1732 unter der Führung des Predigers Jan Liberda eine kleine Delegation der Flüchtlinge das Hallesche Tor im Süden der preußischen Hauptstadt.

Friedrich Wilhelm I. schenkte den Neuankömmlingen zunächst wenig Achtung, obwohl die einstigen Leibeigenen der Habsburger dem Preußenkönig »zu Füßen« fielen und untertänigst darum flehten, er solle sie »zu seinen Unterthanen machen«. Doch »Seine Majestät konnte sich nicht entscheiden.« Der König gab zu verstehen, dass er nicht an »Bettlern«, sondern nur an Handwerkern interessiert sei, die ihm bei der Bebauung der drei neuen großen Straßen, die vom Stadttor bis unter die Linden und zu seinem Schloss führten, behilflich sein konnten. Die gläubigen Böhmen aber waren hartnäckige Bittsteller, sie »gingen im Cabinett auf und nieder« und »ließen nicht nach«, bis der König ihnen am südlichen Ende seiner Wilhelmstraße einige Grundstücke zum Bau von Wohnhäusern versprach. Die Böhmen »dankten dem Könige auf den Knien, küssten sein Kleid und versprachen, daß sie sich stets als gehorsame Unterthanen aufführen wollten.«

Die Kunde von der Gnade des Königs verbreitete sich rasch, den ersten 87 böhmischen Familien folgten in zwei Schüben mehrere hundert Einwanderer. Da es keine Wohnungen für sie gab und der König auch keine Anstalten machte, ihnen Bauplätze zuzuweisen, kampierten die Einwanderer auf der Hasenheide und den Wiesen vor dem Halleschen Stadttor. 300 von ihnen, hauptsächlich Bauern, für die der König keine Verwendung hatte, ließen sich im Süden Berlins bei Richardsdorf nieder, wo sie 18 Häuser bauten und das böhmische Rixdorf gründeten. Noch heute liegen die kleinen Häuschen und Gärten wie eine bäuerliche Siedlung zwischen den pulsierenden Großstadtadern der Sonnenallee und der Karl-Marx-Straße.

Auch die Handwerker, denen der König seine Unterstützung versprochen hatte, konnten nicht gleich einziehen in der großen Stadt. Einige von ihnen warteten beinahe drei Jahre lang auf Einlass und verbrachten kalte Winter in den Zelten vor dem Halleschen Tor und auf der Hasenheide. Sie schliefen auf Decken und Strohsäcken, die der König ihnen vor Anbruch des Winters im Dezember 1733 hatte zukommen lassen. Erst 1735 schenkte er ihnen ein erstes Grundstück in der Wilhelmstraße 29 und 3000 Taler für den Bau eines Schul- und Predigerhauses. Auch an die Toten dachte Friedrich Wilhelm und wies ihnen einen Begräbnisplatz auf dem Armenfriedhof vor dem Halleschen Tor zu. (vgl. Kreuzberger Nr. 164)


Foto: Privat
Erst 1737 erhielten die Einwanderer vom König die versprochenen Grundstücke und Baumaterialien für 39 einfache, zweigeschossige Häuser am südlichen Ende der Wilhelmstraße. Diese Grundstücke lagen nicht weit entfernt vom Hugenottenviertel an der Oranienstraße und in einer Gegend, in der keine feinen Equipagen, keine Palais von Geheimräten, Ministern und Vertrauten des Königs mehr standen, sondern in der noch immer Felder und Gärten das Landschaftsbild prägten.

Auch das neue, gemeinsam mit dem Pariser und dem Leipziger Platz angelegte Rondell vor dem Halleschen Tor machte die eher menschenleere Gegend noch nicht zur Stadt. Obwohl der runde Platz nach dem Vorbild der Piazza del Popolo in Rom angelegt worden war und einfahrenden Kutschen imponieren sollte, versank er schon bald im üblichen Schmutz der Vorstädte, da die ungebildeten Bewohner ungeachtet des stolzen italienischen Vorbildes ihren Kot und Unrat eimerweise in den Rinnstein entleerten. Auch, als das Rondell nach dem glorreichen Sieg über Napoleon den Namen Belle-Alliance-Platz erhielt, konnte das den Ruf der Gegend, in der die böhmischen Einwanderer wohnten, nicht mehr aufbessern. Bald wurde der Süden der Straße von den argwöhnischen Berlinern als »böhmische Walachei« verspottet, man munkelte, dass man dort weder Deutsch noch Französisch sprechen durfte, sondern ausschließlich Tschechisch.

Den Hauptstädtern, die sich gerade erst mit den Hugenotten angefreundet hatten, waren die böhmischen Einwanderer zu viel. Sie sprachen von den »hundsföttischen Kolonisten« und amüsierten sich über die braven Spitzenhäubchen und die steifen Anzüge der Hinterwäldler aus dem Riesengebirge. Doch die Gottesgläubigen ertrugen alles mit großer Geduld, bauten fleißig Häuser und Kirchen, gründeten kleine Handwerksbetriebe, bekamen Kinder und trugen, ganz so, wie der König sich das vorgestellt hatte, ebenso zum Wachstum der Stadt bei wie die französischen Einwanderer aus der Oranienstraße, und wie viele Jahre später die italienischen, griechischen und türkischen Einwanderer, die nach dem Krieg in die Stadt kamen. •

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