Kreuzberger Chronik
August 2014 - Ausgabe 161

Strassen, Häuser, Höfe

Die Oranienstraße Nr. 33


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von Werner von Westhafen

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Es sieht aus wie jedes andere Haus: Keine kleine Tafel an der Wand erinnert daran, dass hier Akteure des Widerstands unterschlüpften.


Das Haus mit der Nummer 33 ist 152 Jahre alt und eines der ältesten der Straße. Es ist ein schmales, eher unscheinbares Haus. Vielleicht auch deshalb schlug einer jener Männer, die am 20. Juli 1944 ein Attentat auf den großen Diktator verübten, den Weg in die Oranienstraße ein: Ludwig von Hammerstein. Der damalige Oberleutnant hatte den SS-Oberführer Piffrader entwaffnet und seine Gefangenen Stunden lang mit der Waffe in Schach gehalten. Erst als klar war, dass das Attentat gescheitert und Hitler tatsächlich noch am Leben war, hatte sich von Hammerstein in letzter Minute durch eine Hintertür »vorsichtig verdrückt.« Zwei Tage später fuhr er »mit der letzten Bahn nach Kreuzberg« in die Oranienstraße Nummer 33, wo, wie Hans Magnus Enzensberger schreibt, »die Frau eines Offiziers wohnte, den er von der Kriegsschule her kannte.«

Bei der Witwe des alten Schulkameraden konnte er nicht bleiben, zu schnell wären die Verfolger auf die Idee gekommen, bei ihr nach dem Attentäter zu suchen. Doch auf der gleichen Etage wohnte die Drogistin Hertha Kerp, die schon in ihrer Drogerie drei Häuser weiter, in der Oranienstraße Nummer 36, eine Jüdin versteckt hielt und sich sofort bereiterklärte, auch von Hammerstein bei sich aufzunehmen, »der die erste Nacht auf dem Fußboden« verbringen musste. Es folgten noch viele Nächte: Beinahe ein Jahr lang, bis zum Ende des Krieges im April 1945, blieb Ludwig von Hammerstein bei der Drogistin und ihrer Mutter zu Gast in der Nummer 33. Mitten in Berlin.

Das Treppenhaus, 2014 Foto: Dieter Peters
Der Adlige scheint sich in der Wohnung der Frauen sicher und wohl gefühlt zu haben. Hans Magnus Enzensberger schreibt, dass Freunde und Verwandte ihn ausreichend mit Lektüre versorgten. Der Wirtin dürften die regen Kontakte des Versteckten zu Freunden und Verwandten einige Sorge bereitet haben. Schließlich wurde der Attentäter längst steckbrieflich gesucht, in einer »Sonderausgabe zum Deutschen Kriminalpolizeiblatt« war das Foto von Ludwig von Hammerstein veröffentlicht. Das Foto schien den Gesuchten nicht sonderlich zu beunruhigen. Er fühlte sich bei den beiden Damen so sicher wie ein ganz legaler Untermieter, nicht einmal auf sein geliebtes Haarwasser wollte er verzichten und zögerte nicht, das Fläschchen wieder an den Absender zurückzuschicken, als man ihm versehentlich die falsche Marke hatte zukommen lassen. Enzensberger schreibt, dass der Schwester des Adelssprosses allmählich der Geduldsfaden riss: »Wir würden bald aufgeschmissen sein, wenn wir so weitermachten.«

Ob es Wagemut oder schlicht Leichtsinn gewesen war, was aus Ludwig von Hammerstein, dem späteren Intendanten beim Rundfunksender RIAS, einen Helden machte, vermag heute niemand zu beurteilen. Vielleicht war es tatsächlich kaltes Kalkül, wenn er sich gestattete, sein »Hauptquartier« zu verlassen, um auf der Oranienstraße in aller Öffentlichkeit zu flanieren. Dass ein fremder Mann bei der Drogistin wohnte, war nicht weiter verwunderlich in einer Zeit, in der so viele ihre Wohnungen verloren hatten und bei Verwandten und Bekannten Unterschlupf fanden. Wenn einer den Unterschlupf aber nie verließ, wenn man ihn nicht auch hin und wieder auf der Straße oder im Luftschutzkeller in der Oranienstraße 36 gesehen hätte, dann wären die hellhörigen Nachbarn der Nazizeit womöglich doch etwas neugieriger geworden.

Dafür, dass sich von Hammerstein auch der Gefahr solcher Ausflüge bewusst gewesen war, spricht, dass er nie ohne Waffe das Haus verließ. Und nie ohne seinen geliebten neuen Pass. Den hatte er von Oskar Huth bekommen, einem genialen, ebenfalls im Untergrund lebenden Grafiker, der sich auf die Fälschung von Pässen und Lebensmittelmarken spezialisiert hatte, um Menschen im Untergrund das Leben zu erleichtern. Er machte aus dem steckbrieflich gesuchten Ludwig von Hammerstein den unbekannten Karl Ludwig Hegemann.

Bei seinem ersten Besuch im Versteck des Attentäters brachte Huth einige Buttermarken als Geschenk mit. Von Hammerstein wollte sie nicht annehmen, er glaubte, Huth brauche die Marken womöglich dringender zum Überleben als er selbst. Doch Huth erwiderte lächelnd: »Nehmen Sie nur, ich habe sie selber gemacht.«

Den neuen Pass für Ludwig Hammerstein fälschte Huth mit ganz besonderer Sorgfalt, und »damit man seine Daten nicht so leicht kontrollieren konnte, hab ich ihn in Uruguay zur Welt kommen lassen, hab´ ihn zum Auslandsdeutschen gemacht.« Der Pass des Karl Ludwig Hegemann, geboren 1917 in Casa Santa Teresa (Uruguay), begleitete von Hammerstein auf jedem seiner Ausflüge und stärkte das ohnehin sehr gesunde Selbstvertrauen des Gesuchten derart, dass er nicht davor zurückscheute, sich mit Freunden zu verabreden und im November 1944 sogar seine Schwester in ihrer Wohnung aufzusuchen.

Die Familie Hammerstein blieb dem Retter ein Leben lang dankbar. Als der Maler und Grafiker in den Fünfzigerjahren Möbel für die Mutter des wagemutigen Ludwig restaurierte, »damit Herr Huth Geld bekam«, und dabei eines Tages ein paar Ohrringe aus der Schublade verschwanden, hatte die Mutter Ludwigs nur einen trockenen Kommentar dafür übrig: »Die hat sicher der Huth genommen; der braucht sie auch dringender. Was muss ich alte Ziege mir noch so lange Klunker ranhängen!«•




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