Kreuzberger Chronik
Oktober 2013 - Ausgabe 152

Kreuzberger
Bodo Wollenburg

Es ist komisch, aber ich habe plötzlich Zeit!


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Dieter Peters

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Es waren viele Gäste an diesem Abend im Weißen Hirsch am Arnimplatz, Bodo Wollenburg saß in einer langen Reihe von Männern am Tresen, den ganzen Abend lang. Niemand ahnte, dass draußen, nur ein paar hundert Meter entfernt, gerade etwas Außerordentliches passierte. »Wir hatten ja keinen Fernseher in der Kneipe, Fernseher gab es höchstens zuhause. Und der olle Moppel, der eigentlich spuckedürre war, zapfte und zapfte, bis dann seine Schwägerin reinkam und sagte: Passt uff, Leute, die Mauer is uff!« Das führte zu lautem Gelächter im Weißen Hirsch, das erst abebbte, als sie ihren Pass herausholte und den Stempel vom Grenzübergang zeigte.

Es war der 9. November 1989. Der Tag war auch im Leben von Bodo Wollenburg eine Wende. Die zweite große Wende. »Wir sind alle gleich losmarschiert, der ganze Weiße Hirsch, zur Bornholmer Straße«, und da waren Tausende von Menschen, mitten in der Nacht. Bis zur Osloer sind sie gelaufen, »und nirgends musste man bezahlen.« Dabei war Bodo extra noch mal nach oben in die Wohnung gegangen, um Geld zu holen. »Die haben uns alle eingeladen. Da waren die Wessis ja noch happy. Aber als sie dann die langen Schlangen vor den Sparkassen sahen, verging ihnen das Lachen.«

Und dann begann der Umbau. Der Osten wurde allmählich zum Westen, alte Häuser an ausländische Investoren verkauft, die Brachen zugebaut. Für Bodo Wollenburg, den Werkzeugmacher, der auf dem Bau seinen Meister gemacht hatte, brachen gute Jahre an. Er arbeitete bei einer französischen Firma, die sich auf luxuriösen Innenausbau spezialisiert und in Berlin eine Dependance hatte. Und eines Tages stand der Bauarbeiter aus dem Osten an der französischen Küste und blickte auf den Atlantik. Zwei Jahre blieb er im Heimatort des Seniorchefs, war das Mädchen für alles, kaufte morgens frische Austern für das Mittagessen, trank einen Pastis in der kleinen Bar, in der jeden Morgen um Neun zuerst der Gendarm und dann der Postbote hereinkamen – »Die Franzosen verstehen eben etwas vom Leben. Die arbeiten, um zu leben, und nicht umgekehrt, wie die Deutschen.«

Frankreich, das war »wie ´n Fünfer im Lotto.« Der Chef schickte ihn nach Italien, nach Griechenland, um den Marmor zu kaufen, der dann die Badezimmer der Reichen verkleidete. Wollenburg kam ein bisschen herum in der Welt, aber nach vier Jahren »is Vaddern gestorbn«, und die Witwe beschloss, das Geschäft aufzulösen. Bodo Wollenburg streicht sich über den Bart, wenn er erzählt, dass er eine Abfindung von 100.000 Francs erhielt. Eine Geschichte, die ihm viele seiner heutigen Gesprächspartner nicht glauben. Denn »100.000 Francs, das war ne Menge Geld!« Doch ne Menge Geld war kein Problem für Bodo. Bodo versteht etwas vom Leben. Er zögerte nicht lange, sich einen seiner ältesten Träume zu erfüllen, und flog nach Amerika, mietete sich einen Ford, »so ein rollendes Hotel«, und fuhr die Route 66 entlang. Wochenlang, immer geradeaus. »Und dann seh ick da son Schild: German Kitchen. Ick also rein, Juten Tach, und da kommt die Alte und fragt: Sind Sie wirklich n Deutscher?« Die alte Dame freute sich, »die war genau wie ich mit einem Touristenvisum unterwegs gewesen und dann hier hängen geblieben.« Aber Bodo blieb kein Leben lang, er blieb zwei Tage. Er bestellte sich Krautwickel, aß und trank und betrachtete sich die riesigen Trucks, die auf dem Asphaltstreifen vorbeirauschten. Dann ist er weitergefahren, die halbe Panamericana entlang, von New Mexico bis nach Feuerland, »phantastisch!«. Ein paar hundert Kilometer jeden Tag, wie im Rausch. »Das war das Größte, was ich je erlebt hab.«

Heute legt er keine Kilometer mehr zurück, es sind nur noch Meter. Die Zeiten, als er gleich zwei von den 50-Kilo-Säcken mit Zement auf die Schultern legte und die Treppen hinaufstieg – »Man wollte ja nicht zweimal gehen!« – sind vorüber. Er hat jetzt eine Gehhilfe und ein neues Hüftgelenk. Das zweite schon, weil sich das erste »quasi aufgelöst hat«. Bodo Wollenburg lacht. Es macht ihm nichts aus, wenn jetzt alles langsamer geht. Er hat Zeit. Er ist ein geduldiger Mensch. Die Narkoseärztin sagte: »Sie sind der erste, den ich auf dem OP-Tisch lächeln sehe!«

Wäre er Lokomotivführer geworden, wie sein Vater, wäre die Hüfte vielleicht noch in Ordnung. »Aber der war nie zuhause, der war immer unterwegs.« Das war nichts für ihn. Ein ordentliches Zuhause war ihm immer wichtig. Vielleicht, weil er gleich nach dem Krieg geboren wurde. Weil das Vorderhaus komplett weggebombt war und sie zu neunt im Seitenflügel wohnten, in einer Dreizimmerwohnung, Hermannstraße 224, Vater und Mutter, Großvater und Großmutter, Onkel und Tante. Die drei Kinder schliefen in der winzigen Gesindekammer.

Und dann, als sie endlich in Lichtenberg eine eigene Wohnung hatten, wurde die Mauer hochgezogen. Das war die erste große Wende. Aber es ging ihnen nicht schlecht, der Vater verdiente gut, der Sohn bekam Jeans aus Amerika, und obwohl die »Nietenhosen nicht erwünscht« waren, wie der Schulleiter den Eltern schrieb, und obwohl Bodo Wollenburg so lange Haare trug wie Mick Jagger, machte er sein Abitur. Und verdiente Geld genug, um sich ein Auto und gleich zwei Fernseher zu leisten. Er bekam alle Sender rein, Ost und West. Anders als in Dresden »im Tal der Ahnungslosen«, diesem Funkloch, in dem sie nur DDR-Sender empfingen. Bodo Wollenburg hatte keine Sorgen, auch wenn er ein Querkopf war. Die Stasi erkannte er »auf 50 Meter Entfernung, die liefen doch immer mit nem Einkaufsbeutel und nem Regenschirm herum, bei jedem Wetter.«

Wollenburg hatte seine Ruhe. Im Haus wohnten lauter Kunstmaler, »bis zur dritten Etage«, Friedemann und Rewandowski, bekannte Leute. Irgendwann fing er selbst an zu malen, drei Kunstwerke schafften es bis ins Loft 36. Wilk & Friends, die sogar bei Ein Kessel Buntes auftraten, waren seine Freunde, und er verdiente 1500 Ostmark. Es war, sagt Bodo Wollenburg und streicht seinen Bart, und seine noch immer strahlenden blauen Augen blitzen kurz auf, eigentlich »ein ganz normales DDR- Leben, das ich da führte.« Er hatte zwei Fernseher, eine 100-Quadratmeter-Wohnung, ein Auto, eine Frau und zwei Kinder.

Das alles gibt es nicht mehr. Denn nach der zweiten Wende kam die dritte. Und danach war alles anders. »Wat aus der Frau jeworden is, weeß ick nich«, auch die Spur der beiden Söhne hat sich verloren. »Der eine wollte nach Kanada, der andere Banker werden«. Gesehen hat er sie seit Jahren nicht. Und statt eines eigenen Autos hat er sich einen Rollstuhl besorgt. Falls das mit dem zweiten Hüftgelenk wieder nicht klappt. »Prophylaktisch. Bis son Antrag für nen Rollstuhl bei der Kasse bearbeitet ist, lieg ich entweder schon in der Kiste - oder ich kann schon wieder laufen.« Auch die schöne Wohnung in Prenzlaue Berg hat er längst nicht mehr. Er wohnt jetzt nicht weit vom Urbankrankenhaus. In einem Zeltlager unter einem Baum. Er kam gerade aus der Notaufnahme und saß mit Theo, dem Griechen, auf der »Raucherinsel« vor dem Eingang. Sie qualmten und unterhielten sich über »Heraklit oder Herakles oder so«, aber weil es schon wieder Mitternacht und Bodo Wollenburg längst entlassen war, kamen die Security-Leute und forderten sie auf, die Bank zu verlassen. »Na, lasst ma noch 5 Minuten hier sitzen«, sagte Wollenburg. Aber die Security war hartnäckig. Also wanderten die beiden Wohnungslosen ein paar Meter weiter bis zum Ufer und schlugen dort ihr Lager auf.

Es war eine warme, sternenklare und mondlose Nacht gewesen. Inzwischen ist der Mond wieder voll. Und weil es zu regnen begonnen hat, haben die Beiden eine Plane zwischen den Ästen befestigt. Zweimal in der Nacht schaut die Polizei vorbei und fragt, ob es ihnen gut geht. Und jeden Mittag kommt ein Schuljunge bei Bodo vorbei und gibt ihm einen Euro, »jeden Tag, ist das nicht toll?«

Die Fernseher hat Bodo natürlich auch nicht mehr. »Ich vermisse sie nicht. Ich habe Bücher, Bud Spencer zum Beispiel. Und ick hol mir jeden Tag den Tagesspiegel, die Morgenpost und die Berliner aus dem Urban. Und die les ick auch.« Und er unterhält sich gern. Er hat schon eine Menge interessanter Leute kennen gelernt, seit er unter dem Baum wohnt und zur Sozialstation essen geht. »Es kann ja jeden erwischen. Da ist ein Mathematikprofessor dabei, ein Ingenieur, lauter gebildete Leute. Aber die meisten sind dem Suff verfallen und schwelgen im Selbstmitleid. Aber mir selbst bedauern, dazu bin ick der Falsche..«

Bodo Wollenburg ist ein geduldiger Mensch. Er klagt nicht viel, schimpft nicht. Jetzt nicht mehr. Er ist ruhiger geworden, seit er die Wohnung nicht mehr hat. Er hat entsagt. Wie im Kloster. Ein bisschen sind Theo und Bodo wie Becketts Vladimir und Estragon. »Das ist ganz komisch: Früher musste ich arbeiten, und mir ständig überlegen, was ich einkaufe und koche. Das fällt alles weg. Es ist komisch, aber ich hab plötzlich Zeit. Ich hab schon darüber nachgedacht, wieder mit dem Malen anzufangen«, sagt er und blickt den weißen Schwänen nach, die über das dunkle Wasser segeln.

»Der Wohnung trauer ich nicht nach!«, sagt Wollenburg. »Ich lieb ja die Natur. Aber so richtig glücklich« ist er auch nicht unter dem Baum. Denn ein richtiges Zuhause ist das nicht, mit all seinem Hab und Gut in einem Container bei Zapf, für den er 60 Euro im Monat zahlt. »Dafür gabs früher ne ganze Wohnung!« Aber lange wird er ohnehin nicht bleiben können. Der Winter kommt. Und kürzlich war die Polizei wieder da und sagte, dass Theo und Bodo den Platz unterm Baum bald räumen müssten. Ein Pfarrer war auch da. Der hätte einen Platz frei in einem Heim in Friedrichshain. Im Erdgeschoss. Dann kommt die vierte große Wende im Leben des Bodo Wollenburg.


Foto: Dieter Peters

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