Kreuzberger Chronik
Oktober 2013 - Ausgabe 152

Geschäfte

Von Äpfeln, Möhren und Kartoffeln (1):
Satva



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von Horst Unsold

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Der Einzimmer-Laden mit seinen Broten, Kartoffeln, Karotten und Äpfeln in der schmucklosen Reichenberger ist einer der letzten seiner Art. Er hat nichts zu tun mit den modischen Filialen, die sich seit einigen Jahren überall einmieten und massenweise Biofood verkaufen. Dieser Laden duftet. Nach Brot, Äpfeln, Birnen und auch ein kleines bisschen nach Karotten. Und manchmal nach Patschouli. Oder nach Tabak. Was auch immer an einzelnen Duftnoten den 30 Quadratmeter großen Raum erfüllt: Sie alle bilden ein großes, harmonisches olfaktorisches Ganzes.

Schließlich trägt der Laden den indischen Namen Satva, was so ähnlich klingt wie Sativa und an eine Pflanze namens Cannabis erinnert, deren botanischer Name in den Siebzigerjahren im Wortschatz jedes Langhaarigen zwischen Los Angeles, Indien und Frankfurt tiefer verwurzelt war als irgendeine andere lateinische Vokabel.

Aber der Laden heißt Satva, und Satva kommt aus dem Indischen und bedeutet »Harmonie«. Den Namen haben aber nicht Ralf, Ali oder Lothar ausgesucht, die jetzt seit über dreißig Jahren Obst und Gemüse und Brot aus der Ufa-Fabrik verkaufen, sondern deren Vorgänger. »Die hatten schon in den Siebzigern einen Naturkostladen in der Gneisenaustraße, gleich am Südstern. Aber die wollten dann in die Schweiz zum Fliegen.« Die Anhänger des Maharishi Yogi brauchten dazu weder Drachen noch Paraglider, sie nahmen den Lotussitz ein und schwebten davon. Auf ihrem Weg zum Himmel ließen sie all die irdischen Schätze wie Kartoffeln, Rüben und Radieschen, aber auch Ralf, Lothar und Ali für immer zurück und wurden nie wieder gesehen in Kreuzberg.

Die drei zurückgebliebenen Berliner wechselten nach dem Fall der Mauer das schattige Souterrain in der Gneisenau gegen »die Sonnenseite der Reichenberger«. Sonst änderten sie nichts. Sie gehören, ebenso wie die Anhänger der transzendentalen Meditation, zu einer seltenen, liebenswerten und vom Aussterben bedrohten Spezies. Egal, welcher aufgeregte Schlips- und Aktenkofferträger, was für eine Blonde im Streifenrock sich auf der Suche nach einem biologisch korrekten Schnellimbiss in der kurzen Mittagspause in das kleine Geschäft mit seinen Holzkisten und Holzregalen verirrt: Die Männer schlurfen mit der Gelassenheit indischer Kühe durch den Raum. Nichts scheint die jahrzehntelangen Obst- und Gemüseverkäufer mit ihrer Treue zur Frisur der Siebzigerjahre aus der Ruhe bringen.

Sie scheinen ausgerüstet zu sein mit der freundlichen Geduld eines Buddhas. Sie können eingeschworenen Mitgliedern des digitalen Zeitalters noch in aller Ruhe die mechanische Wage von »Ideal« erklären, die früher in jedem Laden auf der Theke stand, und deren Zifferblatt nur bis 1000 Gramm reicht. »Da müssen Sie einfach hier auf der anderen Seite der Waagschale eines von den Kilo-Gewichten drauflegen. Dann zeigt sie alles über 1000 Gramm an.« Und wenn jemand tatsächlich mal fünf Kilo Kartoffeln will, dann legen Rolf, Ali oder Lothar noch drei Mehltüten zu den beiden Kilogewichten.

Von elektronischen Waagen und Rechnern halten die Alten nicht viel. Sie rechnen am liebsten im Kopf. »Und am liebsten laut«, sagt Adalbert, den die Schulkameraden schon vor 60 Jahren Ali nannten, »damit die mitrechnen können und das Kopfrechnen nicht ganz verlernen.« Zwar liegt auf der Theke neben der kleinen Kasse auch ein kleiner Taschenrechner – »für alle Fälle« – aber im Grunde ist hier alles noch wie in den Siebzigern: An den Wänden hängen persische Teppiche, an der Decke eine chinesische Lampe mit Wimpeln, und vor der Glühbirne an der Wand spannt sich ein thailändischer Sonnenschirm aus Papier.

»Die Siebzigerjahre, das war ja die Zeit, als die Leute auf Reisen gingen. Und dann kamen die zurück und sahen, dass hier überall nur noch Supermärkte waren. Sie hatten aber auf ihren Reisen diese kleinen Läden gesehen, in Indien, Griechenland, Spanien, überall verkaufte man noch Bohnen, Salz, Mehl und Tee aus Säcken. Alles war unverpackt und jeder Sack roch nach etwas anderem. So entstanden doch dann die ersten Naturkostläden...«


Foto: Dieter Peters
Die drei Berliner gehörten zu den ersten, die eine »Prallmühle« im Laden hatten und ihr eigenes Vollkornmehl produzierten. »Wir haben noch selbst abfüllen dürfen, Mehl, Müsli, Hülsenfrüchte. Sogar Honig. Wir hatten Pfandgläser und ein Fässchen mit einem kleinen Hahn, aus dem der Honig herauslief.« Das alles wurde irgendwann verboten. Auch die fliegenden Händler, die ihre selbstgebackenen Kuchen und Brötchen vorbeibrachten, blieben aus. Damit die großen Firmen ihr aufs Milligramm genau abgepacktes Sortiment in den hölzernen Regalen der Naturkostläden unterbringen können.

Satva macht da nicht mit. Satva hat nur ein kleines Regal mit abgepackter Ware. »Unser Laden ist ein Protest gegen dieses Überangebot der großen Biomärkte. Ich frage mich auch, was mit all den Lebensmitteln passiert, wenn das Ablaufdatum vorüber ist. Kommt das wirklich alles zur Berliner Tafel? So viel, wie da immer übrigbleiben muss?« Bei Satva bleibt nichts übrig. »Nie!« Und wenn wirklich mal eine Tomate überreif ist, dann kocht einer der drei eben Spagetti.

Es ist aber nicht nur schön, wenn Lebensmittel nicht im Abfalleimer landen. Auch aus ökonomischer Sicht scheint es von Vorteil zu sein. Wie sonst ist zu erklären, dass diese duftenden Äpfel, die ein Rentner für Satva in Brandenburg direkt beim Bauern kauft, nur zwei Euro kosten. Oder diese wunderbaren Kartoffeln, die Linda, die Annabel oder die Anuschka. Alle aus garantiert kontrolliert biologischem Anbau. Für nicht einmal 2 Euro. Da kommt die LPG, die zwei Straßen weiter täglich Tausende von Kunden zur Kasse bittet, nicht mit.•




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