Kreuzberger Chronik
November 2013 - Ausgabe 153

Strassen, Häuser, Höfe

Die Gitschiner Straße


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von Werner von Westhafen

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Die Straßen am Fuß des Kreuzbergs tragen die Namen von Feldherren und Schlachten gegen Napoleon. Doch es gab noch andere Kriege.


Die Gitschiner Straße trägt keinen sonderlich schönen Namen. Keine berühmten Häuser flankieren ihren Verlauf im Schatten der eisernen Trasse der alten Hochbahn, der sie vom Halleschen Tor, dem ehemaligen Belle Alliance Platz, durch eine eher schmucklose Wohngegend bis zum Wassertorplatz folgt. Dann wechselt sie ihren Namen, nennt sich Skalitzer Straße und wird plötzlich berühmt. Sie kommt an belebten Plätzen und Orten vorüber, überquert die Oranienstraße, lässt den Lausitzer Platz hinter sich und den »Görli«, führt zum Schlesischen Tor, zur Köpenicker Straße und endlich bis an die Spree.

Die Skalitzer Straße wird in jedem Fremdenführer erwähnt, die Gitschiner nur am Rande. Dabei sind beide die Nachkommen jener alten Straßen, die einst entlang der historischen Stadtmauer verliefen, die einzelnen Stadttore und Plätze am Bollwerk miteinander verbanden und wegen ihrer strategischen Bedeutung für die Kuriere »Kommunikation« genannt wurden. Die Gitschiner Straße zwischen Halleschem Tor und Wassertor hieß »Hallische Communikation«, die Skalitzer Straße »Cotbusser Communikation« und »Lausitzer Communikation«.

Aber als 1852 der Luisenstädtische Kanal eröffnet wurde und der neu angelegte Wassertorplatz seinen Namen erhielt, bekam auch die Kommunikation einen neuen Namen und nannte sich »Hellweg«. Der hübsche Name blieb ihr jedoch nur 16 Jahre lang erhalten, denn dann fiel die Mauer, wieder musste ein neuer Name her. Die Anwohner wollten ihr Sträßchen gerne nach dem böhmischen Dorf Sadowa bei Königgrätz benennen, wo die glorreichen Preußen mit ihren legendären Zündnadelgewehren, die bis zu sieben Schüsse innerhalb einer Minute abfeuern konnten, die Österreicher erfolgreich in die Flucht geschlagen hatten. Zahlreiche Legenden rankten sich um die im Volksmund populäre Schlacht bei Königgrätz, voller Schadenfreude zitierte man die österreichischen Feldherren, die ihren Männern vergeblich Mut einflößen und sie beruhigen wollten: »So schnell schießen die Preußen nicht.« Auch im 21. Jahrhundert sind diese Worte unvergessen.

Da es aber bereits eine Königgrätzer Straße in der Nähe gab, plädierte der Magistrat für eine »Münchengrätzer Straße«. Am Ende einigte man sich auf einen Kompromiss: Das böhmische Dorf Gitschin, bei dem sich am 29. Juni 1866 Friedrich Karl von Preußen 42.000 Österreichern und Sachsen gegenübersah. Friedrich Karl hatte nur halb so viele Krieger in die Schlacht werfen können wie seine Gegner, doch gelang es ihm, in der Dunkelheit der Nacht die Ortschaft in Besitz zu nehmen und den Weg zur Eroberung von Königgrätz und damit für Preußens Sieg zu ebnen.

Die Gitschiner Straße heißt heute noch Gitschiner, nur der Ort liegt heute in Tschechien, und er heißt auch nicht mehr Gitschin, sondern Jicin. Jicin ist ein hübsches Städtchen, nicht weit entfernt von Prag am Rande des Riesengebirges, das einst einmal zum Reich des Albrecht Wenzel Eusebius von Waldstein gehörte, der spätestens unter der Feder des Dichters Schiller als Wallenstein zur Legende wurde. Auch Karl Kraus, der in diesem ruhigen Winkel der Welt geboren wurde, hat dem kleinen Städtchen in seinen autobiografischen Schriften ein literarisches Denkmal gesetzt.

Doch außer einigen Germanisten und dem erlesenen Kreis der Kraus-Verehrer erinnert sich kaum noch jemand an ein Städtchen namens Gitschin. Der glorreiche Sieg über die Österreicher ist fast vergessen, nur an den großen Krieg danach erinnern auch heute noch die schmucklosen Fassaden der Sechzigerjahrearchitektur und die großen Lücken in den Häuserketten an der Südseite der Linie 1. Nur wenige Straßen Kreuzbergs wurden von den Bomben des 2. Weltkriegs so erbarmungslos heimgesucht wie die Gitschiner Straße.

Foto: Dieter Peters
Die Jahre, als berühmte Erfindungen aus dem gewaltigen Patentamt an der Gitschiner Straße die Welt eroberten, sind ebenso vergangen wie das Jahr 1899, als in der Straße die erste Müllverbrennungsanlage Berlins den Betrieb aufnahm. Nachdem sich bereits ausländische Journalisten über den Gestank in der Stadt belustigten und Karikaturisten die alten Weiber mit ihren Fäkalieneimern auf dem Weg zur Spree darstellten, schrieben die Zeitungen entsprechend stolz von einer Anlage an der Gitschiner Straße, die bei Temperaturen von bis zu 2000 Grad »1000 Centner Müll täglich« schmelzen konnte. In der Gartenlaube schwärmte ein begeisterter Autor davon, dass mit der freiwerdenden Wärme des »Berliner Gesamtmülls eine erhebliche Anzahl von Pferdestärken« gewonnen werden könne und die zurückbleibende Schlacke, die den Härtegrad des Feuersteins besitze, dem Asphalt zugesetzt werden könne, um diesem die gefährliche »Glätte zu nehmen«.

Doch heute verkehren unter der Hochbahn keine Kutschen mehr. Aber alte Hochbahnhof an der Prinzenstraße lässt bis heute erahnen, wie schön auch diese Straße vor dem 2. Weltkrieg gewesen war. Der Blick vom Bahnsteig entlang der Geleise in Richtung Hallesches Tor fällt noch heute auf die Fassaden alter Gründerzeitbauten, und auch der Bahnhof selbst mit seinem elegant geschwungenen Dach ist im Grunde kaum verändert und erinnert an Zeiten, als auf den Liegewiesen des Prinzenbades noch der Gasometer der englischen Gasanstalt stand, und als auch die Gitschiner Straße mehr als nur eine Autotrasse mit schmalen Bürgersteigen war. •


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