Kreuzberger Chronik
Mai 2013 - Ausgabe 147

Strassen, Häuser, Höfe

Die Heimstraße24


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von Werner von Westhafen

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Es ist eines der wenigen Häuser mit Beletage in der Straße. Man erkennt es schon von weitem an dem hohen Portal des Eingangs

Wie ein Vorhang öffnet sich die riesenhohe Tür und gibt den Blick frei auf die hölzerne Treppe, die vom ebenerdigen Geschoß 16 Stufen hinauf zur Beletage des Hochparterre führt, flankiert von den hölzernen Paneelen und Putten, die der stolze Bauherr 1888 im Eingangsbereich hatte an die Wände malen lassen. Die alten, bis unter die hohe Decke reichenden Malereien versinnbildlichen den Lauf der Jahreszeiten. In der Mitte der stuckverzierten Decke schwebt über der barocken Galerie ein Engel, der in seiner Linken nun schon seit 125 Jahren eine Laterne hält. Aus der Rechten ragt noch heute der Anschluss der alten Gasleitung: Der Engel hielt die Gaslampe, die einst den Hausflur beleuchtete.

Auch in dem Café, das im Erdgeschoss der Nummer 24 eröffnete, schaut noch der kleine Nippel einer Gasleitung aus der Wand. Dort brannte für die passionierten Raucher die »ewige Flamme« eines Tabakgeschäftes. Die Berliner Rauchwarenhändler hielten stets einen Zigarrenschneider für ihre Kundschaft bereit und die blaue Gasflamme des Zigarrenanzünders immer am Brennen, damit die sehnsüchtigen Raucher nicht länger auf den ersten Zug warten mussten.

Auf der anderen Seite der hohen Eingangspforte hatte früher ein Fleischer sein Geschäft. Der Metzger hatte auch die Remise besetzt und eine Wurstküche mit zwei Räucherkammern und Kühlräumen im Hof der 24 eingerichtet. Auch den Pferdestall hatte er gepachtet. Bis in die Siebzigerjahre hinein hat Metzger Pakusch aus der Markthalle die Räume der alten Fleischerei zur Fabrikation genutzt, und natürlich kaufte Berthold Henschke, der das Haus in den Zwanzigerjahren erworben hatte, seine Wurst bei Pakusch. Der Vermieter soll die Einkäufe in der heimischen Beletage zur Kontrolle immer noch einmal auf die Waage gelegt haben, und als tatsächlich einmal ganze 50 Gramm fehlten, ging er abermals die hölzernen 16 Stufen der Treppe hinab und beschwerte sich über die fehlenden Gramm. »Jetzt ham Se sich doch nicht so, Herr Henschke«, soll der Fleischer zum Hausherrn gesagt haben, der darauf entgegnete: »Aber wieso denn? Sie zählen mein Geld doch auch!«

Der alte Henschke verstand etwas vom Fleischergeschäft, er selbst hatte sein Glück mit Schlachtvieh gemacht. Wollstein hieß die kleine Ortschaft in der Provinz Posen, wo der Vater des alten Henschke ein kleines Hotel und Restaurant besaß. Als der Berthold 18 war, ging er bei einem Fleischer in die Lehre, und da der junge Mann keine Lust hatte, »Wurstzippel zu verkaufen«, war er froh darüber, dass der Meister ihn öfter »über Land schickte«, um Vieh zu kaufen. Nach dem Abschluss der Lehre machte Berthold Henschke sich selbständig, kaufte Magervieh und stellte es bei einem Grafen auf die Weide. »Besiegelt wurden die Geschäfte noch mit dem Handschlag, und bezahlt wurde mit Gold«, erzählte Berthold Henschke später seinen Enkeln. Wenn die Tiere fett genug waren, brachte er sie mit dem Zug nach Berlin zu den Schlachthöfen in der Landsberger Allee. Bald soll der Viehhändler so gut im Geschäft gewesen sein, dass er jede Woche einen Waggon mit Schlachtvieh an den D-Zug nach Berlin anhängte. Das ging so lange gut, bis der erste Weltkrieg dazwischen kam. Den letzten Waggon mit Rindern und Schweinen hat seine Frau an den Zug gehängt: Berthold Henschke war im Krieg.

Doch er kam heil wieder zurück. Nur Wollstein gehörte plötzlich zu Polen. So kamen Berthold und Helene Henschke mit der Tochter nach Berlin. Von dem Gold kauften sie Anfang der Zwanzigerjahre als persönliche Altersvorsorge das Haus in der Heimstraße. Es ist eines der gepflegtesten in der Straße, das Mauerwerk ist solide, die Keller sind belüftet, in den Holzpaneelen im Treppenhaus sind noch die eisenverzierten Luftlöcher, und die Malereien an der Wand sind so gut erhalten, als hätten sie die letzten hundert Jahre im Museum gelagert.

Die Mauern stehen ungerührt und felsenfest, selbst eine Brandbombe hat das Haus beinahe unbeschadet überstanden. Nur die Bewohner wechselten hin und wieder im Lauf der vielen Jahre. Als die vom Krieg zerstörte Markthalle 1956 wieder eröffnete, kamen immer weniger Kreuzberger zum Einkaufen die Heimstraße herauf. In den Höfen der Nummer 24 nutzte der alte Pakusch zwar noch die Wurstküche und die Räucherkammern, doch der Laden war verschwunden, und auch der Tabakhändler hatte eines Tages die Ewige Flamme in seinem Laden ausgepustet. Ende der Sechzigerjahre waren die großen Schaufenster in der Heimstraße alle verschwunden, im Erdgeschoss der Nummer 24 wohnten einfache Mieter.

Nun aber scheint das geschäftige Leben in die Heimstraße zurückzukehren, einige der alten Schaufenster wurden wieder geöffnet. Da, wo einst der Tabakhändler Tabak verkaufte, duftet es jetzt nach Kaffee und Kuchen, das kleine Café mit dem großen Namen Conni Island ist beliebt und viel besucht. Es scheint, als ginge es wieder bergauf mit der Heimstraße, und es verwundert nicht, wenn immer wieder Immobilienfirmen bei den Erben des alten Henschke anläuten; denn das Haus ist auch in der 4. Generation noch immer im privaten Besitz. Und die Mieter halten diesem Haus die Treue.

»Hier«, so hatte schon Helene Henschke immer gesagt, »werden die Bewohner alle herausgetragen«, so ein Haus verlässt niemand freiwillig. Im Sommer feiern die Mieter und ihre Nachbarn ein Hoffest mit Lagerfeuer und Musik, »überall stehen runde Tische, es gibt eine Tanzfläche mit Lampions. Dann sieht das hier aus wie im Hotel.« Und dann denken die Nachfahren in dem Haus in der Heimstraße manchmal noch an das alte Hotel des Urgroßvaters in Wollstein – mit dem einst alles begann. •


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