Kreuzberger Chronik
März 2013 - Ausgabe 145

Essen, Trinken, Rauchen

Enrica im Dicken Bruno


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von Michael Unfried

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Im Le Cochon Bourgeois, dem »bürgerlichen Schwein« mit seinem »Boudin noir mit Selleriepüree« oder dem »Ronde de la mer mit Austern, Steinbutt, Heilbutt und Hummerkrabbenbolognese« kann ein Handwerker seinen Wochenlohn vertrinken. Auch anderen Ende der Fichtestraße können Hartz IV-Bürger ihr komplettes Monatseinkommen lassen. Stefan Hartmann kocht kein Linsensüppchen mit Speck, er kocht sein Süppchen aus Petersilienwurzeln und garniert es mit Bachforelle und Kaviar. Als Vorspeise empfiehlt er Hummer, und als Nachtisch könnte er Dominostein von Spekulatius und weißer Schokolade mit Kumquats für 15 Euro reichen. Der lange Abend mit Wein und sieben Gängen kostet dann 164 Euro pro Person.

Es gibt also das Cochon und das Hartmanns, das Tomasa mit feudalem Ambiente und die Osteria No Uno mit ihren berühmten Gästen. Und es gibt Enrica. Enrica macht nicht viel Wirbel um die Kunst des Kochens. Sie hat keine Sterne in ihren Zeugnissen, weiß nicht, wie man Hummerkrabbenbolognese zubereitet, operiert zu Hause und in einer engen Kochnische beim Dicken Bruno, einem Weinlokal, in dem es nur kleine Speisen, Leberwurstbrote, Mettwürste, Wildschweinpasteten, westfälische Eintöpfe vom Wirt persönlich gibt. Und manchmal eben Enricas Pasta, Enricas Gnocchi, Enricas Risotto.

Kochen hat Enrica nicht in der Schule oder im Hotel gelernt. Sie hat ihr Wissen über Kräuter, Gewürze, Pasta, Fisch und Fleisch auch nicht aus Büchern, sie hat es von ihrer Mutter, aus Italien. Sie rollt die kleinen, zarten Gnocchi noch immer im Handballen. Sie scheut keine weiten Wege, wenn es darum geht, einen milden Gorgonzola für die Soße zu kaufen, die sie mit grünen Kräutern und schwarzem Mohn garniert. Sie schneidet das Rindfleisch in kleine, längliche Streifen, brät es kurz an, bevor sie es unter die Rollen der Pasta gibt und mit frischen Kräutern und Pilzen mischt. Sie tritt nie mit großer Geste an den Tisch, sondern stets wie eine Mutter, die ihr Kind, das aus der Schule kommt, mit einem Teller frischer Nudeln begrüßt.

Enrica kocht mit Steinpilzen, Kapern, Zimt und Koriander. Und mit Liebe und Leidenschaft. Zwei Zutaten, die man auch in den Edelrestaurants oft vergeblich sucht, da man sie nirgends kaufen kann. Entweder man besitzt sie, oder man besitzt sie nicht. Enrica besitzt sie. Und deshalb kann es passieren, dass die Gäste laut aufschreien, wenn Enrica in Mütze und Schal in der Tür steht und nach Hause gehen möchte, obwohl jemand noch einen Teller Pasta wollte. Das sind die unvergesslichen Momente, die es im Cochon und im Tomasa niemals gibt: Sie dreht sich, hängt den Mantel wieder an die Garderobe und geht zurück in die kleine Kochecke, um eine weitere Portion fantastischer Gnocchi zu kochen.

Als sie eine halbe Stunde später auf die Straße hinaustritt, setzt langsam, aber stetig anwachsend, hinter ihr der Applaus ein. Und es klatschen selbst die, die nur getrunken haben. •


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