Kreuzberger Chronik
Juni 2013 - Ausgabe 148

Herr D.

Der Herr D. und die Briefe


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von Hans W. Korfmann

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oder
Wie sich die Zeiten doch nie ändern.

Der Herr D. war nicht altmodisch. Aber er besaß Angewohnheiten, die von den jungen Geschäftsleuten, die jetzt immer häufiger in den Kreuzberger Cafés herumlungerten und mit ihren Smartphones sprachen, durchaus als altmodisch bezeichnet werden würden. Selbst seine Nachbarin, - nicht die mit der Bratschenfigur, sondern die mit den hübschen Knien, die ihrem Nachbarn sonst mit so viel Verständnis zuhörte - war einen Moment befremdet, als er erzählte, dass er sich zum Geburtstag drei handyfreie Tage geschenkt hatte . Dann schlug sie die hübschen Beine übereinander, lächelte ihn an und berührte mit ihren zarten Fingerkuppen für einen winzigen Moment die Hand des Herrn D., die seit dem letzten Stück Käsekuchen neben dem leeren Teller ruhte, als warte sie auf Nachschlag. Sie berührte die Hand des Nachbarn so, wie eine Enkeltochter am Krankenbett die Hand ihres Großvaters streichelt. »Die jungen Leute warten doch ständig darauf, dass ihr Handy klingelt. Ich bin froh, wenn es endlich mal ruhig ist.«

Der Herr D. bemerkte, wie die Spur einer Röte auf die Wangen der Nachbarin schlich, und sagte: »Wie jung sind Sie eigentlich?«

Die Nachbarin legte den Finger auf die Lippen. »Ich schreibe auch keine emails, sondern echte Briefe!«, fuhr der Herr D. fort. »Bis vor kurzem habe ich noch jeden Monat Sondermarken gekauft.«

»Darf ich Sie auf den Käsekuchen einladen?« fragte die Nachbarin, und schlug das rechte Bein wieder über das linke.

Am Nachmittag - der Herr D. dachte noch immer an die Knie der Nachbarin – hörte er plötzlich die Stimme der Postbeamtin: »Ja bitte?«

Der Herr D. schob ihr die bereits adressierten Briefe zu und sagte: »Und dann hätte ich gern noch zwanzig Plusbriefe.« Seit einiger Zeit kaufte er nämlich Briefkuverts mit aufgedruckten Briefmarken.

»Und was ist das hier?«, fragte die ehemalige Beamtin und deutete auf einen seiner Briefe.

»Ähem...«, sagte der Herr D., »den wollte ich noch mal öffnen, und dabei ist er mir zerrissen. Deshalb hab ich die Marke ausgeschnitten und auf ein anderes Kuvert geklebt.«

»Das geht nicht«, sagte die Beamtin. »Sie müssen das ganze Kuvert bringen. Es könnte ja sein, dass der Brief falsch abgestempelt und die Marke nicht entwertet wurde.«

»Aber warum soll ich büßen, wenn Ihre Maschine einen Fehler macht?«

»Das weiß ich nicht. Und ich habe mich auch nicht mit Ihnen über unsere Vorschriften zu unterhalten.«

»Aber Sie dürfen doch noch über Ihre Vorschriften nachdenken. Oder ist das auch schon verboten?«, fragte der Herr D. und dachte beim Hinausgehen darüber nach, wie anders die Deutsche Geschichte vielleicht verlaufen wäre, wenn die Menschen sich nicht immer so blind an die Vorschriften gehalten hätten. •


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