Kreuzberger Chronik
Juli 2013 - Ausgabe 149

Kreuzberger
Jügen Enkemann

Dreißig Jahre lang Blick aufs Meer.«


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Dieter Peters

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Dreißig Jahre lang Blick aufs Meer.

Dieses Jahr ist es ein halbes Jahrhundert. Im Sommer 1963, dem Jahr, in dem John F. Kennedy sagte, er sei ein Berliner, kam auch Jürgen Enkemann nach Berlin. Günter Grass und andere honorige Persönlichkeiten waren in der Freien Universität erschienen, um eine Lobeshymne auf die Freiheit zu hören, wie sie die amerikanischen Präsidenten bis heute gerne halten. Schon wenige Wochen später brannten in den Fenstern West-Berlins die Kerzen. John F. Kennedy war ermordet worden. Jürgen Enkemann erinnert sich daran, als wäre es gestern gewesen.

Zwanzig Jahre später stand er selbst am Rednerpult. An der Technischen Universität versammelte er die linken Anglistikstudenten Berlins um sich, da die Englisch-Professoren der Freien Universität als zu konservativ galten. Jürgen Enkemann dagegen hatte seine Dissertation über Aldous Huxleys »Schöne neue Welt« geschrieben, ein Thema, das die protestierende Studentenschaft weitaus mehr interessierte als Shakespeare. Die klassische Literatur galt als weltfremd, sie verleitete dazu, sich mit dicken Büchern in den Elfenbeinturm zurückzuziehen. Enkemann aber war kein Bewohner des Elfenbeinturms. Er wollte nicht nur lesen, er wollte reden. Etwas bewegen. Er wollte auf die Straße mit der Literatur.

Vielleicht taucht deshalb immer wieder der Begriff der »Community« in seinen Schriften auf. Bis heute hat die deutsche Transkription der »Nachbarschaft« oder »Gemeinde« keinen christlich-konservativen Unterton für ihn. Im Gegenteil: Die Community ist für Enkemann die Keimzelle jeder politischen Bewegung, der Beginn des Widerstands. Als Enkemann 1994 den Journalistenpreis des Verbandes Deutscher Anglisten entgegennimmt, kommt auch der Verfasser der Laudatio auf den Begriff der Community zu sprechen, der im Zentrum von Enkemanns inzwischen fünfzigjährigem Schaffen steht. Wahrscheinlich, weil er vor genau einem halben Jahrhundert mitten in eine dieser Keimzellen hineingeriet. Das Kreuzberg der 60er-Jahre war genau das, was Enkemann in seinen Schriften mit einer funktionierenden Community meint. Ein »Kiez«, eine kleine, autarke , aber lautstarke Gesellschaft innerhalb des unübersichtlichen Staatsgebildes: eine Subkultur.

Das erste Quartier, das Enkemann 1963 bezog, lag in der Kreuzberger Großbeerenstraße. Gemeinsam mit zwei anderen Studenten hatte er sich bei Familie Lange im 2. Stock eingemietet, »einfache Leute aus einer Arbeiterfamilie«. 70 Mark kostete das 16 Quadratmeter große Zimmer. Jetzt ist er wieder in diese Wohnung zurückgekehrt. Im Erker des großen Zimmers, das früher der Familie Lange gehörte, steht heute sein Schreibtisch - zwischen fast vier Meter hohen Wänden, an denen bis unter die Decke Bücher liegen und stehen, so schwer, dass sich einige der rot oder braun, noch ganz im Stil der Siebzigerjahre, lackierten Regalbretter unter ihrer Last bedenklich biegen. Ganz oben sind zwei Meter einem einzigen, inzwischen fast zum Rosa verblassten, ehemals roten Buch vorbehalten, von dem der Autor noch immer Exemplare übrig hat: Seine Habilitation aus dem Jahr 1983 über Literatur und Journalismus. Sie steht rechts, dort wo die wissenschaftlichen Schriften, Sekundärliteratur, Atlanten und Lexika stehen. Auf der anderen Seite stehen die Romane, Essays, Gedichte. Dazwischen sitzt Jürgen Enkemann, in einem niedrigen Korbstuhl, vor einem Tisch, der so wie alle Waagrechten im Raum, sämtliche Stühle, Tischchen, Fensterbänke, mit Buchstaben bedeckt ist, Buchstaben in Form von Zeitungsblättern, Büchern, Schreibmaschinenseiten und handgeschriebenen Notizzetteln. Enkemanns Arbeitszimmer ist ein Chaos, in dem sich niemand zurechtfindet außer Enkemann persönlich.

Manchmal findet selbst er sich nicht mehr zurecht darin. Es ist zu viel, was sich da in diesem 75 Jahre andauernden Leben angesammelt hat. Unermüdlich murmelt er vor sich hin, während er ein wenig beunruhigt ein Schriftstück sucht. Professorenhaft fährt er sich durch das graue, seit den Sechzigerjahren halblange Haar. Inmitten des Arbeitszimmers mit dem verstaubten Globus auf dem Kachelofen und den fast vertrockneten Zimmerpflanzen am staubblinden Fenster entspricht er ganz dem Klischee des zerstreuten, stets nachdenklichen Professors. Eines Menschen, der nicht von dieser Welt ist, der zwischen der Theorie der Schriftwelt und dem Straßenpflaster der Realität dahinschwebt.

In der Nähe des Yorckschlösschens - irgendwo zwischen dem Rat Pack, der Nulpe und dem Leierkasten - all diesen Straßenlokalen, zwischen denen er herumzustreifen scheint, als gäbe es sie noch, kennt die Community ihn. Sie begrüßt ihn als »Herrn Professor«, auch wenn sie weiß, dass er nie ein ordentlicher, sondern immer ein außerordentlicher Professor war. Sie zeugen ihm Respekt, sie wissen, dass er sich durchschlagen muss mit einer Rente, die zum Leben nicht reicht. Dass er immer weiter schreiben muss, für die Junge Welt, die taz, den Tagesspiegel, für ein mickriges Zeilenhonorar. Harte Zeiten sind das. Vielleicht hat er sie vorausgesehen, als er 1978 mit »seinen Studenten« Hard Times gründete. Es war nicht mehr als ein alternatives, linksorientiertes Studentenblatt auf billigem, heute längst vergilbtem Zeitungspapier, doch erst kürzlich erschien die 92. Ausgabe, glänzend und stilvoll wie die Vogue. Und noch immer steht da im Impressum dieser Satz: »Gegründet von Jürgen Enkemann«.

An Hochglanz war in den Siebzigern nicht zu denken, als der Spross der Lehrerfamilie 1963 zum ersten Mal im Leierkasten auftauchte, wo sich die Künstler und Literaten trafen. Nichts war glänzend in jener Zeit, es waren auch damals eher trübe Zeiten. Mühlenhaupt selbst stand hinterm Tresen und begrüßte den neuen Gast, indem er ihm zuerst einmal das Bierglas wegnahm und es in einem Zug halb leertrank. »Aber dann gab er mir auch eins aus!« Enkemann hatte es nicht weit zum berüchtigten Bermudadreieck, diesem Strudel zwischen Leierkasten, Nulpe und Yorckschlösschen, in dem selbst gestandene Seemänner noch untergingen. Enkemann nicht. Er verlor nie die Orientierung, hat die Gegend nie verlassen. Jede seiner Wohnungen lag in der Nähe des legendären Dreiecks. Er blieb auf Kurs, verbrachte die Nächte in den Kneipen, und die Tage am Schreibtisch, schrieb für den Kreuzberger Stachel, unterrichtete im Mehringhof und in der Volkshochschule Englisch für Ausländer, arbeitete als Übersetzer und – wie so viele Studenten -als Taxifahrer. Im Elfenbeinturm war er ein seltener Gast.

Er arbeitete so viel, dass er sich ein kleines Häuschen in Irland leisten konnte, in dem viele seiner Kreuzberger ihre nötigen Pausen vom wilden Leben einlegten. Valentia Island hieß der kleine Fleck Erde, der wie eine Insel aus der Irischen See ragte, aber seit einigen Jahren durch eine Brücke mit dem Festland verbunden war. Da hatte Enkemann »30 Jahre lang Blick aufs Meer.« Irgendwann hat er das Haus wieder verkauft.
Es blieb keine Zeit mehr für Reisen nach Irland. Er musste sich um seine Community kümmern, musste 1998 das »Kreuzberger Horn« gründen, eine Zeitschrift von Kreuzbergern für Kreuzberger. Sie erscheint heute noch. Und er musste, ebenfalls schon vor über 15 Jahren, gemeinsam mit dem Wirt des Yorckschlösschens das Hornstraßenfest aus der Taufe heben. Inzwischen ist das musikalische Wochenende zur Kiezwoche mit verschiedensten Veranstaltungen angewachsen, die, wie Enkemann schreibt, »aus dem Wunsch nach Stärkung und nachbarschaftlichem Miteinander« entstanden ist. »Nicht zuletzt«, schreibt er an anderer Stelle und hebt den Zeigefinger, »geht es um die Förderung einer kritischen Wachsamkeit gegenüber den Tendenzen sozialer Ausgrenzung (...), Mietenspekulation und zunehmender Kommerzialisierung des kulturellen Lebens.«

Wäre nicht so ein unordentlicher, zerstreuter, sondern ein ordentlicher Professor aus ihm geworden, vielleicht säße er heute in seinem kleinen Elfenbeinturm am Rande des Atlantik, bei Whiskey und Zigarren, und ab und zu kämen die Kreuzberger zu Besuch auf die irische Insel. So aber schreibt er weiter. Veranstaltet Diskussionsrunden, Konzerte, Ausstellungen, kämpft wie Don Quijote gegen steigende Mieten, gegen die Verwahrlosung seiner geliebten Community. Gegen den Untergang eines Ideales, das doch fast schon einmal Wirklichkeit war: das Kreuzberg der Sechziger- und Siebzigerjahre.


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