Kreuzberger Chronik
Februar 2013 - Ausgabe 144

Briefwechsel

Der ideale Archivierungsort


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von Edith Siepmann

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Eckhard Siepmann zur kostenlosen Kiezlektüre

Für meine Lektüre der verdienstvollen Kreuzberger Chronik gilt: Der liebste Platz, den ich dafür auf Erden hab, ist nicht die Rasenbank am Elterngrab. Es ist vielmehr der Ort, an dem der Mensch nach der Erkenntnis von Brecht lernt, dass er »nichts behalten darf«: das Klo.

Das ist, Hand aufs Herz, ganz und gar nicht despektierlich gemeint. Wer wie ich gewohnt ist, seine Lektüren nicht selten auf der Klobrille fortzusetzen, weil die Lebenszeit zum Lesen all’ der wunderbaren Bücher dieser Welt einfach nicht ausreicht, der weiß das griffige Format und die Leichtigkeit der Chronik zu schätzen.

Während sich der Körper Erleichterung verschafft, entdecke ich, der seit fast 30 Jahren hier im Kiez lebt, immer noch Unbekanntes, erfahre etwas über die Jugend von sehr Altem und über Leute, die ich nur vom Sehen her kenne. Ich bemerke, dass es immer noch heißt »der Herr D.« statt »Herr D.«, und grüble nach, was der zusätzliche Artikel über den Herrn K. verrät.

Bei wirklich aufregenden Texten, wie sie sich regelmäßig in der Chronik finden, zögere ich dann die Sitzung auch über die Dauer des funktional Notwendigen hinaus und nehme dabei sogar leichte olfaktorische Belästigung in Kauf.

Diese kleinen Kabinette sind auch der ideale Archivierungsort für die Hefte; wer die aktuelle Ausgabe ausstudiert hat, greift gerne auf frühere Jahrgänge zurück und sinniert in Demut am höchst zuständigen Ort über das Vergehen alles Irdischen nach.

Lieber Herr Siepmann!

Nie wäre ich auf die Idee gekommen, »Despektierliches« in Ihrem Bekennerschreiben zu orten. Im Gegenteil, ich habe Ihr intimes Geständnis, unser Kiezjournal als regelmäßige Toilettenlektüre zu nutzen, als Kompliment verstanden. Ich bin mir sicher, dass sich unser bibliophiles, aber etwas steifes Papier, zu keiner entwürdigenden Zweckentfremdung eignet. Auch dass Sie etwaige Geruchsbelästigungen in Kauf nehmen, nur um die Lektüre fortsetzen zu können, freut mich ungemein. Zudem bin ich der festen Überzeugung, dass unser Heft sich bei Ihnen auf der Toilette in bester Gesellschaft befindet, und dass neben unserem Kreuzberger durchaus auch ein schmales Bändchen Hölderlin, ein Novalis oder ein Ernst Bloch liegen könnte.

Ich erinnere mich gut, wie auf den WG-Toiletten der Siebziger nicht nur Lucky Luke und Pardon, sondern Carlos Castaneda, William Burroughs und Erich Fried zu finden waren. In einer Kommune stieß ich auf eine Karl Marx-Gesamtausgabe, die jemand offensichtlich aus der Bibliothek entliehen hatte – ohne sie jemals zurückzubringen.

Herr Siepmann, wir würden uns glücklich schätzen, wären alle Kreuzberger Toiletten so gut ausgestattet wie die Ihre.

Mit freundlichen Grüßen – Hans W. Korfmann


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