Kreuzberger Chronik
Dez. 2013/Jan. 2014 - Ausgabe 154

Geschichten & Geschichte

Die Zauberer von der Wrangelstraße


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von Hans W. Korfmann

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Sie treten noch manchmal in alten Filmen auf: Die Fliegenden Händler mit ihren Leiterwagen, Bauchläden und ihren phantastischen Reden.



In der Vorweihnachtszeit sieht es so aus, als kehrten sie noch einmal zurück auf die Straße: Die Händler mit ihren Süßigkeiten und Lebkuchenherzen. Die hölzernen Stände der Weihnachtsmärkte, die von Glühbirnen und rauchenden Karbidlampen beleuchteten Zelte erinnern an Zeiten, als noch jeden Tag Leiterwagen durch die Großstädte klapperten, an belebten Straßenecken, auf kleinen Plätzen, Märkten und vor den ersten, großen Kaufhäusern Halt machten, damit die Handelsreisenden lautstark ihre revolutionären Neuheiten und Erfindungen anpreisen konnten.

Die Männer waren Schausteller und begnadete Alleinunterhalter, die allein wegen ihres Geschwätzes Trauben von Menschen um sich versammelten, die sich nicht im Geringsten für Kleiderbürsten oder Gemüsemesser interessierten, sondern allein für den Auftritt dieser Kleinkünstler. Dagegen sind nicht nur die heutigen Reden blondierter Schmuckverkäuferinnen im weihnachtlich dekorierten Foyer des Kaufhauses Karstadt mit seinem »Modeschmuck« und seinem »einmaligen Angebot«, sondern auch die Spaßvögel von RTL und anderen traurigen Unterhaltungssendungen nur noch langweilig.

In den Zwanzigerjahren brauchten die Berliner noch keine Unterhaltungssendungen. Sie gingen auf die Straße, um sich zu unterhalten. Zum Beispiel auf die Wrangelstraße, an derem östlichen Ende, zwischen Skalitzer Straße und Falkensteinstraße, sich die »ambulanten Händler« ein Stelldichein gaben. Der Autor Kurt Groggert hat in seinen Kindheitserinnerungen beschrieben, wie die Fahrenden Obsthändler mit ihren »mageren Pferdchen« durch die Straßen fuhren, um mit »heiserem Gebrüll« ihre Bananen anzupreisen: »Viere, sechse, achte, fuffzehn goldgelbe Bananen, meine Damen, und noch eene druff, und noch eene, alle zusammen für nur eene Mark... – na, Mutterken, komm her, für dir hab ick ooch noch wat...«

Besonders interessant aber waren die »Neuigkeiten-Verkäufer« mit ihren aufklappbaren Bauchläden: »Also, meine Damen und Herren – ihr Kinder jeht ma´n Stück zurück – treten Sie bitte näher, ich zeig´ Ihnen das gern noch mal.« Dann holte der Händler der Erfindungen seine Wundermaschine heraus, nahm sie »zwischen Daumen und Zeigefinger...« und demonstrierte in rasender Eile die verblüffende Funktion eines frisch patentierten Dosenöffners, dessen Handhabung womöglich mehr Geschick erforderte als das Herbeizaubern von 12 weißen Kaninchen aus einem schwarzen Zylinder. Spielzeugmäuse begannen auf den Armen der Zauberkünstler zu laufen, sobald man den Schwanz anhob, und der »japanische Hühnerkäse« explodierte, sobald er in ein Glas mit Wasser gelegt wurde.


Foto: Postkarte
»Sonnabends konnte man auf der Wrangelstraße sogar ein Band erwerben, das, in die Hose eingebügelt, eine auf Dauer messerscharfe Bügelfalte« garantierte. Besonders sehenswert war auch »das Entfernen von Saft-, Soßen- und Suppenflecken«, bei dem der Seifenhändler durch eines der herumstehenden Kinder ein Stück Seife aus seinem Kasten herausgreifen ließ, um zu beweisen, dass jedes seiner Seifenstückchen die Zauberkraft besaß, sogar Flecken von Gallustinte im Handumdrehen verschwinden zu lassen.

Selbst hartnäckigstes Rheuma konnten die Zauberer von der Wrangelstraße behandeln: »Wat Sie da alles zu sich nehmen, die janze Marjarine, das ist doch bloß Seifenwasser. Mein Großvater, det war´n alter Schäfer, hat mir det Zeuch vonne Stulle runterjekratzt und hat mir Salz druffgestreut. Und sehn Se mich an, meine Damen und Herren, wie ich hier vor Ihnen stehe, Rheuma, Gicht und was Ihnen sonst noch alles zur Plage wird, das kenne ich nicht.« Und irgendwann, wenn genug Leute um ihn herumstanden und die Geschichten vom Schäfer hörten, dann holte er ein ganz seltsames Gerät aus seinem Kasten, das aus lauter Röhren voller »giftgrüner, violetter, orangeroter oder blauer Flüssigkeiten« bestand, und reichte es einem verblüfften Zuschauer aus der ersten Reihe, worauf es im Innern des gruseligen Röhrensystems zu brodeln begann. Dann stellte der Wunderheiler die Diagnose: »Sie haben´s manchmal mit dem Magen, son unbestimmtes Völlegefühl, stimmt´s?« Es stimmte immer, und die Versuchsperson »konnte nur noch in stummer Ergriffenheit nicken.«

Für die Kinder auf der Wrangelstraße aber waren Rheuma und Obstflecken auf der Hose kein Thema. Sie standen beim Händler der Süßigkeiten, der noch mit Hilfe einer Handkurbel und eines Zahnrades eine große Trommel zur Rotation bringen musste, um das Gespinst feiner Zuckerwatte zu produzieren. Auch die Zuckerstangen wurden von einem Mann in weißer Jacke auf der Straße hergestellt. Im Schein der Karbidlampe goss er die heiße, »mit feinen Luftblasen durchsetzte, glasklare Sirupmasse« auf eine Marmorplatte, wo sie sich ausbreitete. »Mit einem Spachtel drängte der Meister sie zurück, schlug die Ränder wie die Ecken eines Tuches zusammen«, träufelte aus einer Glasphiole Aroma in die erkaltende Masse, färbte einen Teil leuchtend rot und näherte sich dann dem »Höhepunkt der Vorstellung«: Er knetete die zähflüssige Masse zu einer Wurst, hängte sie an einen Haken unter der Plane seines Wagens, wo sie langsam zu einem breiten Band zerlief, um das er am Ende eine Girlande aus einer roten Zuckerspur drehte.

Mit großen Augen verfolgten die Kinder die Vorstellungen der Zauberer von der Wrangelstraße. Einige von ihnen leben heute noch, und sie sehen die Männer der Straße heute noch vor sich, als wäre es gestern gewesen. Doch die Männer mit der Gabe der Rede sind längst aus dem Straßenbild verschwunden. •

Literaturnachweis: »Michael Haben, Mitten in Berlin, Verlag Ästhetik und Kommunikation






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