Kreuzberger Chronik
Oktober 2011 - Ausgabe 131

Geschichten & Geschichte

Bomber über Kreuzberg


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von Bernd Selig

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Hätte der Wind am 3. Februar 1945 anders gestanden, wäre die Luisenstadt in Schutt und Asche gelegen.


Es war der dritte Tag danach, Dienstag, der 6. Februar 1945. Am Samstagvormittag hatte die Junkerstraße mit ihren Geschäftshäusern und ihren Wohnhäusern noch gestanden. Jetzt befand sich ein gigantischer Trümmerhaufen an ihrer Stelle. Nachbarn, die überlebt hatten, berichteten von einer Katastrophe, erste Gerüchte drangen durch, dass auch von Berlins berühmtem Zeitungsviertel nichts mehr geblieben sei, nur die Fassaden des Mossehauses und des Scherlhauses hatten die Bomben überstanden.

Vergeblich versuchten Menschen, in das abgeriegelte Gebiet einzudringen, um nach Freunden und Verwandten zu suchen. Die Nazis ließen niemanden durch, sie hatten kein Interesse daran, den Berlinern das Ausmaß der Zerstörungen vor Augen zu halten. Seit die Bombardements zunahmen, hatten sie ihnen sogar verboten, Kränze auf den Ruinen niederzulegen, unter denen Mütter, Geschwister, Nachbarn begraben lagen. Sie wären Mahnmale der Grausamkeit und der Sinnlosigkeit dieses längst verlorenen Krieges.

Erst am vierten Tag wurde die Sperre zur Junkerstraße aufgehoben. Eine Zeitzeugin berichtet, wie die Rollwagen die Oranienstraße entlangholperten, »vollgepackt mit Leichen, darüber eine Plane gezogen. An den Seiten sah man überall die Füße mit den Schuhen – Männer und Frauen –, die Köpfe lagen zur Wagenmitte. Bis zum Oranienplatz waren nur hin und wieder Häuser getroffen, aber kurz vor dem Moritzplatz ging es los. Der Platz glich einem See, Wasserrohre waren getroffen und hatten alles überschwemmt.« Als die Frau die Junkerstraße erreicht, ist sie schockiert: »Kein einziges Haus war stehengeblieben.«

Die Bombardierung der alten Luisenstadt war detailliert und lange geplant. In einem Bericht der Royal Air Force, der ein halbes Jahr vor dem Angriff verfasst wurde, wird darauf hingewiesen, dass es bei »einem vollen Einsatz des Bomber Command« und dem Einsatz von

1.000 Flugzeugen möglich sei, »in einer einzigen Operation den dicht bebauten Teil von Berlin östlich vom Tiergarten zu verbrennen, ein Gebiet, welches trotz zahlreicher Angriffe bis heute nur oberflächlichen Schaden erlitten hat.« Zur Orientierung empfahlen die Strategen das schon von weitem sichtbare Flugfeld des Tempelhofer Flughafens, der sich in einer »höchst vorteilhaften Lage zu dem Gebiet befindet, das zerstört werden soll…« Dass es sich bei dem Viertel um eines der am dichtesten besiedelten Wohngebiete Berlins handelte, störte die Militärs nicht.

Die scheinbar unmenschliche Zerstörungswut der Alliierten allerdings hatte ihre Vorgeschichte. Vier Jahre zuvor, in der Nacht vom 24. auf den 25. August des Jahres 1940, hatten die Deutschen erstmals London bombardiert. Die Antwort der Engländer kam 24 Stunden später mit dem ersten Luftangriff auf Berlin. In den folgenden Monaten verging kaum eine Nacht, in der die Nazis keine Angriffe auf London flogen, während die Engländer sich zunächst zurückhielten. Beinahe zwei Jahre vergingen, bis die Engländer mit den nächtlichen Bombardements auf die Hauptstadt begannen. Immer öfter schalteten die Berliner das Radio ein und suchten, wenn sie von den »feindlichen Verbänden im Anflug über Hannover-Braunschweig« hörten, die Luftschutzräume auf. Aber erst im November 1943 begann jene Phase des Krieges, die als die »Luftschlacht um Berlin« in die Geschichtsbücher einging. Von nun an nahmen jede Nacht hunderte von Flugzeugen das Hauptquartier der Nazis ins Visier.

Am 3. Februar 1945 entschlossen sich Engländer und Amerikaner zum Angriff. Am Samstagmorgen gegen elf Uhr überflogen 958 Flugzeuge den Flughafen von Tempelhof mit dem Auftrag, die gesamte Luisenstadt in Schutt und Asche zu legen. Zielsicher gingen die Bomben der ersten Angriffswelle über der Luisenstadt nieder und verwandelten das Häusermeer nördlich des Flughafens in ein rauchendes Inferno. Schon wenige Minuten später allerdings wehte den Bombern der zweiten Welle allerdings nun eine Wolke aus Asche und Staub entgegen und nahm den Piloten die Sicht. Nur dem Wind ist es zu verdanken, dass sich die Bomben des zweiten Angriffs über den gesamten Osten der Stadt verteilten, und dass einige Häuserzeilen der Luisenstadt noch nahezu komplett erhalten sind.

Zwischen der Leipziger Straße und dem Luisenstädtischen Kanal allerdings lag ein einziges Trümmerfeld. Das Exportviertel der Ritterstraße und das Zeitungsviertel an der Kochstraße waren Ruinen.

30.000 Kreuzberger hatten an diesem Samstag Schutz unter der drei Meter dicken Betonschicht des Fichtebunkers gesucht und überlebt. Andere überlebten in den Bierkellern der Schultheiss-Brauerei oder in den Luftschutzräumen ihrer Häuser. Mit dem Leben waren sie davon gekommen, doch ihre Wohnungen hatten sie verloren. In den ersten Nächten des kalten Februars sah man sie unter den Brücken der Hochbahn und der Kanäle schlafen, eingewickelt in Säcke und Mäntel. Doch nicht alle waren mit dem Leben davongekommen. Man berichtete von 2.893 Todesopfern. Die Berliner dagegen sprachen von

25.000 Toten. Sie wussten, wo ihre Angehörigen waren. Wer unter diesen Trümmerbergen lag, auf denen sie keine Kränze mehr niederlegen duften. Und wo all die Vielen waren, die als Vermisste in die Statistik eingingen. •

Der Plan - und seine Ausführung

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