Kreuzberger Chronik
März 2011 - Ausgabe 125

Michael Hughes Kreuzberger
Franziska von Schön Angerer

Die Kohleöfen dufteten nach Freiheit


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von Ina Winkler

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Ihr Vater, der ganz plötzlich starb, und den sie heute noch vermisst, hatte sie »Mariechen« genannt. Weil sie als Kind immer »Mal riechen« sagte. »Mariechen« musste an allem, was ihr besonders interessant erschien, zuerst einmal riechen. Düfte faszinierten sie, und jede Lebensphase, jeder Ort hatte seinen eigenen Geruch, Hannover, Berlin, das Haus, der Garten, die U-Bahn.

»Mariechen« nimmt den Handschuh, einen feinen, weichen Damenhandschuh aus Ziegenleder, der vor ihr auf dem Kaffeehaustisch liegt, und der noch immer ein bisschen nach Großmutter riecht. Wie zufällig wedelt sie mit ihm an ihrer Nase vorbei, für einen winzigen Moment weiten sich die Nasenlöcher. Es ist, als müsse sie diesen Duft noch einmal erinnern, um von Ursula-Christine von Schön-Angerer, einer »sehr attraktiven, selbstbewussten Person mit einem äusserst schlagfertigen Mundwerk«, erzählen zu können.

Während die Großmutter nach Leder duftete, roch ihr Urgroßvater wahrscheinlich nach orientalischen Gewürzen, nach Wüste, nach Pferden, nach Holzfeuern, nach Stein, nach rotem Staub und nach Abenteuer. Karl Wilhelm Valentin von Diebitsch, Franziska von Schön-Angerers berühmtester Urahn, wurde 1862 an den Hof von Said Pascha, dem Vizekönig von Ägypten, gerufen und hinterließ den Palast des Nubar Pascha und die Villa Oppenheimer, protzige Zeugen preußischer Architektur, in Nordafrika. Er starb, gerade fünfzig Jahre alt geworden, in der Fremde an den Schwarzen Pocken. Viel von ihrem berühmten Vorfahren weiß sie nicht zu berichten. Sie hat ihn nie wirklich gerochen.

Der Duft des Handschuhs aber ist einer der ältesten und deutlichsten im Leben von Franziska von Schön-Angerer. Der Duft von Berlin wehte ihr erst in einem Herbst Anfang der Achtzigerjahre entgegen. Es war der Geruch von glimmender Kohle, vom Qualm, der aus unzähligen Schloten und Schornsteinen stieg und der an feuchten, kalten Morgen wie ein Nebel über der Stadt lag, ein dichter, warmer, fremder Geruch. »Ich kam aus Hannover, einer Stadt voller Zentralheizungen. Hannover ist ein Pupsdorf gegen Berlin. Den Geruch der Kohleöfen mochte ich sofort, Kohle roch nach Freiheit für mich.« Der Geruch wurde zum Duft, gehörte zum Odem einer Stadt, in der alles möglich war, in der man tagelang über Flohmärkte und durch muffige Secondhandläden ziehen konnte, in der verrauchte Kneipen Tag und Nacht geöffnet hatten. Der Qualm der Currybuden am Ausgang der »miefigen U-Bahnstationen«, exotische Falafeldüfte an allen Ecken, der Geruch des Chlors im Prinzenbad, in dem sie noch heute, fast dreißig Jahre später, jeden Sommer die gleichen Leute trifft - als wäre diese Stadt ein Dorf.

Franziska von Schön-Angerer ging noch aufs Gymnasium, als sie in den Herbstferien ihren Cousin in Berlin besuchte. »Ständig klingelte das Telefon«, und alle zwei Tage rief einer an und gab die Parole aus: »Die Bullen kommen«. Dann ging es über die Dächer, durch die Hinterhöfe, dann formierte sich die schnelle Eingreiftruppe vor irgendeinem besetzten Haus, das die Polizei einnehmen wollte. Wenn der Einsatz vorüber war, zogen sie durch die Kneipen, ins Ex’n’Pop oder ins Anfall. Sie konnte allein durch die Kreuzberger Nächte ziehen, »ohne dass einer einen gleich doof anquatschte.« Das war in Hannover oder Frankfurt undenkbar, und das hat sie »schwer beeindruckt!«

Es blieb ihr gar nichts anderes übrig, als nach Berlin zu ziehen. Denn jedes Mal, wenn ihr am Bahnhof Zoo dieser verrauchte Atem der Großstadt entgegenwehte, atmete sie auf. Das unterscheidet sie von jenen, die heute in die Stadt kommen. »Die Leute, die sich jetzt in Kreuzberg teure Wohnungen kaufen, hätten auf dem Absatz wieder kehrt gemacht – damals!« Franziska von Schön-Angerer aber wohnt noch immer in einem Hinterhaus mit Kachelofen. Im feinen Vorderhaus sind die »Actuallis« eingezogen, lauter Amerikaner, die »jeden zweiten Satz mit actually beginnen«. Die über die Hinterhäusler die Nase rümpfen und an der Mülltonne weder grüßen noch lächeln.

Auch in ihrer ersten Berliner Wohnung, immerhin schon »mit Innentoilette und Duschkabine in der Küche«, stand ein Kachelofen. Es war Oktober, es war kalt, von morgens um acht bis abends um sechs wartete sie auf ihre erste Kohlelieferung – umsonst. Am nächsten Morgen rief sie an und schimpfte wie eine alte Berlinerin. »Eine Stunde später hatte ich meine Kohlen!« Und wusste, wie lebenswichtig die Berliner Schnauze war in dieser Stadt.

Der kleine Ficus Benjamin, mit dem sie einst einzog, reicht heute bis unter die Decke. Die große Wohnung in der Möckernstraße, die sie sich mit einer alten Dame teilte, die am Ende des langen Ganges zwei Zimmer bewohnte, ist längst verkauft. Da wohnen keine Mieter mehr. Vier Jahre studierte sie in dem großen Erkerzimmer mit Blick auf den Kreuzberg, »brav und fleißig«, zuerst Germanistik, - »Ich dachte, wir lesen Literatur, aber da saßen leider lauter verquaste Schwaben herum!« -dann Französisch – »Aber da saßen lauter Tussis, die nach süßem Parfum rochen und auf gut aussehende Typen mit französischem Akzent warteten«, - und am Ende Spanisch - »Das war ganz ok, da waren ganz nette Leute dabei.«

Eines Tages fuhr sie, von oben bis unten mit Schmuck behängt, nach Andalusien, und beschloss, das Studieren aufzugeben, um etwas Kreatives zu machen. Als ein Goldschmied eine Praktikantin suchte, meldete sie sich. Sie mochte ihn sofort, den Geruch der Werkstatt, das
lederne »Fell«, in dem der feine Goldstaub aufgefangen wurde, wenn der Goldschmied an etwas feilte, bohrte, polierte. Denn obwohl sie ein Faible für Feinstoffliches hat, möchte Franziska von Schön-Angerer immer auch einen »Widerstand spüren«. Sie liebt widerspenstige Materialien wie Silber und Gold. Auch wenn sie dieses widerspenstige Metall beinahe zwei Finger gekostet hätte, ein halbes Jahr lang trug sie einen Gips und wusste nicht, ob sie jemals wieder würde arbeiten können mit dieser Hand. Aber Franziska von Schön-Angerer macht auch keinen Schmuck zum Vergnügen. Sie macht Schmuck aus Überzeugung. So wie ihr Cousin aus Überzeugung Häuser besetzte.

Es sind keine zierlichen, dezenten Schmuckstückchen, es sind schwere, auffällige, eigenwillige Kunstobjekte, eigentlich ungeeignet für all die Hannoveraner, Amerikaner, Veganer, die jetzt in die Stadt kommen; diese braven Pärchen, die über die Zeughausmesse bummeln, ihre Lava-Silberkette für 850 Euro lässig durch die Hände gleiten lassen und sich dann doch für die Korallenkette entscheiden, die etwa die Hälfte kostet. »Was auch ok ist, ich kann mich eh nur schwer von meinen Sachen trennen«. Die aber dann, quasi schon im Gehen, ihre dreißigjährige Tochter fragen, ob sie nicht vielleicht doch lieber die Lavakette haben möchte? »Als wäre das ein Schokoriegel«, den man im Vorbeigehen mitnimmt. So viel Kohle haben die!«

Solche Kunden ärgern sie. Weitermachen wird sie trotzdem. Auch wenn sie immer noch viel »nebenbei arbeiten« muss, eigentlich die ganze Woche lang. Echte Künstler müssen »ihre Kohle eh meistens nebenbei verdienen.« Und Franziska von Schön-Angerer hat schon viel »so nebenbei« gemacht: Sie stand nächtelang hinter dem Tresen, saß im Kassenhäuschen der Berliner Messe und im Organisationsbüro der Frankfurter Messe. Sie ging, als es gar keinen Job mehr gab, gleich persönlich bei Air Service Berlin vorbei, damit sich der neue Arbeitgeber davon überzeugen konnte, dass sie tatsächlich noch nicht zu alt war für den Job als Hostess, und dass ihr das hellgrüne Kostüm der Firma super stand. Sie saß morgens früh in der Flughafen-Lounge in Tempelhof, wenn über dem Flugfeld und den Dächern von Neukölln tiefrot die Sonne aufging, flog nach Dresden oder an die Ostseeküste, drehte Runden über Berlin und verlor im brummenden Rosinenbomber allmählich ihre Flugangst. Auch das Kerosin roch nach Freiheit, fast wie die Kohleöfen, die immer weniger werden. Doch auch das war nur ein Job zum Brotverdienen. Ein Job, mit dem sie ihre Ideen verwirklichen konnte. Sie hat zuviele davon, und sie trägt sie lange mit sich herum, feilt, sägt, schmiedet daran. »Du, ich habe ne Idee«, sagt sie und ist ganz aufgeregt, und alle, die sie kennen, »verdrehen die Augen« und denken: Nicht schon wieder!

Ein paar Mal im Jahr aber staunen sie. Wenn Franziska von Schön-Angerer ihren Schmuck präsentiert: Ringe wie kleine Sterne, runde, weiche Ringe, umgeben von Kränzen aus spitzen Zacken und Zähnen, widerspenstige, eigenwillige Kunstobjekte. Auf der Zeughausmesse in Berlin oder der Expo Bijoux in Genf sind sie zu sehen. Oder auf der Schau in Blau, immer kurz vor Weihnachten, im großen Berliner Zimmer ihres Ateliers. In dem es so gut nach Kohle duftet. •


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