Kreuzberger Chronik
Juli 2011 - Ausgabe 129

Briefwechsel

Nur von Rechtsextremisten


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von Eberhard Seidel

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zum Leserbrief in der Ausgabe Nr. 128

Liebe Redaktion der Kreuzberger Chronik,

seit Jahren lese ich Ihr interessantes und lesenswertes Heft – häufig mit Freude und Gewinn. Der Beitrag »Singend vor Bankautomaten…« von Michael Oswald hat mich nun allerdings sehr irritiert. Sollte der Text eine Satire auf das dörfliche und xenophobe Denken so mancher Kreuzberger sein, die sich selbst als alteingesessen betrachten und deshalb glauben, Touristen hassen zu müssen, dann ist der Versuch lobenswert, der Text allerdings recht misslungen. Sollte der Text aber ernst gemeint sein, dann wäre ich erschüttert, mit welcher Selbstverständlichkeit Sie Xenophobie Vorschub leisten. Zitat aus dem Text: »Ich habe nichts gegen neue Leute, die hier her kommen, wenn sie hier her passen (…) Das sind doch keine Kreuzberger mehr! Solche Leute passen nicht hierher!«

Solche Sätze kannte ich bislang nur von Rechtsextremisten. Vor zwanzig, dreißig Jahren begründeten sie damit, weshalb Türken nicht in Kreuzberg oder dem Wedding wohnen sollten. Oswalds Text ist menschenverachtend. Woher nimmt sich Oswald das Recht, darüber zu entscheiden, wer aus welchen Gründen hierher gehört und wer nicht? Eine solche Haltung ist anmaßend, antimodern und reaktionär. Im besten Fall ist dieses Denken provinziell und dörflich. In schlechteren Fällen lassen sich damit ethnische und sonstige Säuberungen begründen. Widerstand gegen steigende Mieten sieht anders aus. Er kann auf die Denunziation ganzer Gruppen von Menschen verzichten. Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Elan und Ideen für zahlreiche Ausgaben der Kreuzberger Chronik.
Mit freundlichen Grüßen - Eberhard Seidel

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Sehr geehrter Herr Seidel,

Zunächst vielen Dank für die lobenden Worte am Anfang und die versöhnlichen Zeilen am Ende, in denen sie uns weitere »zahlreiche Ausgaben der Kreuzberger Chronik« wünschen. Wir haben Ihre Antwort auf den Leserbrief in unserer letzten Ausgabe zunächst als emotionalen Ausdruck einer Verärgerung über eine zunehmende Intoleranz verstanden. Den Vorwurf der »Menschenverachtung« oder die Diagnose der »Xenophobie« halten wir für übertrieben. Bei genauerem Betrachten mussten wir aber feststellen, dass Ihr Brief einige interessante Fragen aufwirft: Wer hat das Recht, zu behaupten, jemand passe nicht hier oder dort hin? Gibt es dieses Recht überhaupt? Ist ein Argument, nur weil es von Rechtsextremisten ins Spiel gebracht wurde, automatisch »antimodern und reaktionär«?

Wir könnten viel dazu schreiben, allein uns fehlt der Platz. Weshalb wir an dieser Stelle lediglich festhalten möchten, dass der von Ihnen gewählte eingangs erwähnte Begriff der »Irritation« eine sehr treffende Vokabel ist.

Mit ebenfalls sehr freundlichen Grüßen - Hans W. Korfmann

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