Kreuzberger Chronik
April 2011 - Ausgabe 126

Geschäfte

Die Stille unter der Gneisenaustraße


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von Saskia Vogel

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Einst bediente Nadine Cuenca-Alca den Rechner einer Bank. Heute steuert sie einen Massagecomputer

Ein eftiger Regen überschwemmt die Gneisenaustraße, es ist kalt und ungemütlich. Doch wer einen Blick unter den trüben Wasserspiegel wirft und ein schmales Treppchen ins Souterrain der Nummer 81 hinabsteigt, der kann in ein Meer aus Wohlgefühlen tauchen, tief unten auf dem Grund des Kreuzberger Regenmeers. Silence - »Stille« - heißt das unter der Gneisenaustraße verborgene Reich, in dem erfrorenen und verkrampften Städtern eine warme Sonne in den gestressten Rücken gerollt wird, mitten hinein in die Wirbelsäule, wo die wichtigsten Nervenstränge verlaufen und gleichzeitig so viel Ärger des Alltags abgeladen wird. Wenn ein Tier sich in die Enge getrieben fühlt, stellt es die Nackenhaare auf. Und wenn Zeitdruck und Ängste den Menschen belasten, dann verkrampft auch er den Nacken.

Sieben »Jademassageliegen« hat Nadine Cuenca-Alca aus China kommen lassen. Mit rund 1.500 Euro Investitionskosten pro Liege hat vor allem der Zwischenhändler ein Geschäft gemacht. »Ich bin halt nicht so die Betriebswirtschaftlerin«, sagt die Chefin, »aber ich muss auch nicht perfekt sein, in meinem Alter kann ich mir das leisten. Ich bin ja schon 49, nein...« - Die Frau mit der weichen Stimme und den dunklen Locken rechnet: »Ich bin 1962 geboren, also bin ich jetzt 48.«

Nadine Cuenca-Alca langweilt sich nie, wenn sie im winzigen Empfangsraum ihres Jadethermalmassage-Studios sitzt, auf Kundschaft wartet und Tee trinkt. Dann verfasst sie ein Gedicht. Oder sie studiert Bücher über die »Chakren – die sieben Zentren der Kraft und Heilung«. Oder sie hat Besuch. Wie heute Mittag, als ein Nachbar kam, um mit ihr über den Tod einer Nachbarin zu sprechen. Dann tauchte eine Frau auf, um in der Couchecke Platz zu nehmen und über ihre Schwindelanfälle zu berichten. »Die Menschen kommen nicht nur zu mir, um sich den Rücken massieren zu lassen. Es geht immer auch ein bisschen um die Seele«, meint die Massage-Spezialistin.

Heller Stoff trennt die Liegen voneinander, damit jeder Kundin - die meisten Besucher sind weiblich -eine Art Miniatur-Wellness-Space zur Verfügung steht. Die Jademassage ist eine Art »to go«-Massage, eine kurze Auszeit aus dem »to go«-Alltag. Bei Nadine Cuenca-Alca braucht man nicht erst umständlich seine Kleider abzulegen, im Silence-Studio legt sich die Sekretärin, die kurz zuvor noch zwischen endlosen »to-do-Listen« zu ertrinken drohte, gleich im Bürokostüm auf eine der Liegen, in deren Innerem ein heißer Jade-Massagestein wie ein kleiner Roboter auf einem »Massageschlitten« die Wirbelsäule auf und ab fährt. Statt weiter im Stress zu ertrinken, kann sie hier für acht Euro 40 Minuten lang auf Wellen schwimmen. Abschalten. Entspannen. Ausruhen. Die Seele mit dem Körper in Einklang bringen.

Foto: Michael Hughes
Die Behandlung wirkt auf vier Ebenen: Massage, Thermalwärme, Akupressur und Jade. »Der blassgrüne Jade-Stein galt schon in den alten Heilkulturen Mexikos und Asiens als Stein herzlicher Freundschaft und inneren Friedens.« Werte, die sie selber während ihrer langen Berufsjahre als Sekretärin bei den »Zeitrationalisten« in der Frankfurter Bankenwelt vermisste. Im täglichen Trott erledigte sie nüchterne Korrespondenzen für die pragmatischen »grauen Männer« aus Michael Endes »Momo«, deren einziges Ziel es war, möglichst viele Stunden in möglichst viel Geld zu verwandeln. Denen der Sinn für Muße abhanden gekommen war, und die Lebensqualität mit Geld verwechselten. »Ich aber bin eine emotionale Träumerin«, sagt Nadine Cuenca-Alca, die sich in der Welt des Kapitals nie wirklich heimisch fühlte. Als sich die berufliche Freudlosigkeit in einer ständigen Verspannung der Schulter manifestierte, kehrte sie der Bank den Rücken und zog mit ihrer Tochter nach Berlin. Zwar stört es sie, dass etwas »Schönes in Kreuzberg eher zu provozieren scheint«, -schon mehrmals wurde ihr Blumenbeet vor dem Studio verwüstet, - doch noch immer ist genügend Raum und Ruhe vorhanden, um sich auf das Wesentliche, auf die Heilung zu besinnen. Über ausreichende Kenntnisse verfügt Nadine Cuenca-Alca noch aus ihrem Medizinstudium. Wenn die Rückenmuskeln verspannt sind, werden die Räume zwischen den Rippen kleiner, die Atmung reduziert sich. Der Mensch verkrampft sich physisch wie psychisch, er wird immer kleiner. Die Jadethermal-Massage macht ihn wieder größer, weitet den Atem und den Blick.

Ohne, dass die »Patienten« viel dazu tun müssten. Sie haben nur eine einzige Aufgabe: sich hinzulegen und zu entspannen. Nadine Cuenca-Alca deckt sie zu, Rosen duften, von irgendwo tönt leise Musik. Kaum hörbar surrt der Elektromotor, wenn der kleine Massage-Roboter die Liege hinab bis zu den Beinen rollt, dann die Richtung wechselt, sich in Wellen wieder hinauf bis zur Halsmuskulatur schlängelt, um die Spannungen mal sanft, mal kräftig auszumassieren. Das leise Summen, das leise Klicken der Apparate stört niemanden, wenn man erst einmal auf dem Rücken schwimmt, tief unten im Kreuzberger Regenmeer, dann irritiert überhaupt nichts mehr, dann ist plötzlich alles von einer wunderbaren Leichtigkeit. •


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