Kreuzberger Chronik
September 2009 - Ausgabe 110

Strassen, Häuser, Höfe

Der Mehringdamm Nr. 51


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von Werner von Westhafen

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Es war ein überaus lebendiges Haus voller Firmen, Künstler, Handwerker und Mieter. Doch seit dem Fall der Mauer ist es still geworden.

Als der Student Karl Ringena 1971 die Höfe betrat, hingen über dem schmiedeeisernen Geländer zum Kellereingang noch die frisch gegerbten Felle des Kürschnermeisters Klöditz. Er hatte im Erdgeschoss seine Werkstätten und stand »bis zum Knöchel in der Chemie«. Trotzdem kamen die feinsten Damen zu Klöditz am Mehringdamm.

Das Haus war eine vornehme Adresse. Der Hausverwalter trug stets einen Anzug und war »höflich wie ein englischer Lord«, sogar dem langhaarigen Studenten gegenüber, der sich im Dachgeschoss des 3. Hinterhofes einquartierte. Als Karl Ringena einzog, lebte auch Anna Zeiler noch, die jedem, der vorbeikam, von den Russen erzählte, die im Hof biwakiert und die Frauen im Vorderhaus vergewaltigt hatten. Auch von einem Arbeitslager im dritten Stock sprach sie, in dem die Zwangsarbeiter auf ihren Melkschemeln saßen und sich den Rücken krumm schufteten. Tatsächlich bestätigt ein Schriftverkehr aus den Vierzigerjahren zwischen Polizeiamt und Gesundheitsamt die Existenz eines »Ausländerlagers« am Mehringdamm 51.

Anna Zeiler hatte auch Fritz Preller noch gekannt, der Backtriebmittel mit dem staatstreuen Namen »Germania« produzierte. Nach dem Krieg musste er sich aus dem 5. Stock der 51 stürzen. Die Wäscherei im 3. Stock hat Ringena noch selbst erlebt. »Ich war immer in den Wolken da oben. Wenn ich das Fenster öffnete, zogen Nebelschwaden herein, und die Küchenschaben, denen das feuchtwarme Klima behagte, krochen uns nachts in die Nase.« Ansonsten fühlten sich die jungen Leute wohl in ihrem Domizil hoch über der Stadt und knapp unter dem Dach.
Zur Wohnung umgebaut hatte das Dachgeschoss noch der Hauseigentümer persönlich. Hans Wittenbecher, der in der Fidicinstraße die ersten brauchbaren Fernsehröhren der Welt produzierte (Vgl. Kreuzberger Chronik Nr. 106), schrieb am 11. Februar 1946 an die zuständige Behörde, er beabsichtige im Gewerbehof »eine Wohnung für eigene Zwecke einzubauen, da ich meine Wohnung in der Köpenickerstraße Nr. 55 durch Bombenschäden vollständig verloren habe.« Wenig später zog er samt seinem Taubenzuchtverein Pfeil unter dem Dach ein. 25 Jahre später musste Ringena die Räume von unzähligen kleinen Skeletten befreien: Nach dem Tod des Taubenzüchters hatte sich niemand mehr um die Tiere gekümmert.

Der zweite Weltkrieg hatte das Haus verschont, doch ein anderes weltgeschichtliches Großereignis überstand es nicht unbeschadet: Als die Mauer fiel, »standen plötzlich die Erben aus dem Osten im Hof!« Die Westberliner Wittenbecher wollten die Häuser behalten, doch die Ost-Wittenbecher brauchten Bargeld. So kam es, dass die Erbengemeinschaft das Haus 1991 an den Immobilienhändler Raphael Korenzecher verkaufte, der, wie man im Vorderhaus erzählte, »gleich mehrere Objekte« erworben hatte. Der Spekulant kündigte sämtlichen Firmen in den Hinterhöfen.
Auch Ringena und Arno Weiler, der eine Dachetage im 3. Quergebäude bewohnte, sollten ausziehen. Doch das Gericht entschied, dass die Dachwohnungen keine Gewerberäume mehr seien. So wurden Ringena und Weiler zu den letzten Bewohnern der Hinterhäuser. Alle anderen mussten gehen, darunter die Druckerei Rotation, die gleich auf vier Etagen druckte, »Renner« mit den rennenden Rasenmähern und das Grafikbüro Sehstern.
Eine Firma namens Graugus, die jede Fuge ihrer Etage hermetisch mit Silikon abgedichtet hatte, verschwand über Nacht ebenso freiwillig wie spurlos, als die Verwaltung eine Besichtigung ankündigte. 2002 titelte das Stadtteilmagazin Tip von »Berlins geheimen Flüsterkneipen« und erwähnte unter ihnen auch das N 51, ein im Hinterhof verstecktes illegales Restaurant mit Ledersesseln, »Zutritt nur für Mitglieder« und eigens aus der Strafvollzugsanstalt Tegel exportierter Gefängnistür am Eingang. Der Betreiber verschwand so heimlich wie die Firma Graugus. Auch das Kindertheater Rote Grütze, das zum Leidwesen Ringenas im 4. Stock Schlagzeug probte, setzte Korenzecher an die Luft.

Es war totenstill geworden in den Höfen. Doch nach einigen Jahren schien wieder Leben in die Höfe zu kommen: Die Quälgeister betraten den 3. Hof, und mit der Hasan Basri-Moschee aus der Nostitzstraße wurde ein Vorvertrag abgeschlossen. Die Gläubigen hatten schon mit der Renovierung begonnen, Teppiche hingen an den Wänden, die Schuhe der Betenden standen im Treppenhaus. Da zog der Eigentümer den Vertrag wieder zurück.

Inzwischen hat das Haus abermals den Besitzer gewechselt. Doch noch immer stehen die meisten Etagen leer. Die Quälgeister im 3. Hinterhof sind kaum zu bemerken, die Männer mit den Lederanzügen sind lautlos und laden am »Tag der offenen Tür« sogar zum Kaffee in ihre Folterkammern ein. Auch im 2. Hof ist es friedlich. Da ist noch immer der Büchertisch mit seinen leisen Lesern. Und gegenüber, im Archiv der Kreuzberger Chronik, ist ohnehin nie ein Geräusch zu hören. Nur ab und zu schlurft ein alter Mann an den Regalen vorüber. •

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