Kreuzberger Chronik
September 2009 - Ausgabe 110

Geschäfte

Die Papierkönigin


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von Erwin Tichatschek

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Papier gibt es im Papiergeschäft. Bei der Post. Im Kaufhaus. Bei der Papierkönigin gibt es Papierschätze.

ES WAR einmal ein junges Mädchen, das liebte Bücher. Es liebte aber nicht nur die Geschichten an den Büchern, die Märchen von Prinzen, Prinzessinnen, schlauen Bauernsöhnen und blonden Küchenmägden, es liebte auch die dicken, bunt bedruckten Deckel, in denen die Geschichten eingeschlossen waren. Es liebte Bücher so sehr, dass es nicht selten mit den Fingerspitzen zärtlich über das Papier mit den Buchstaben strich.

Als das Mädchen eine junge Frau geworden war, beschloss es, in die Lehre zu gehen und den Beruf der Schriftsetzerin zu erlernen. Viele Jahre arbeitete die junge Frau in Verlagen, setzte Buchstaben und Bilder in Zeitungen und Bücher, beschrieb leere Seiten Papier. Doch mit den Jahren saß sie immer öfter vor dem Bildschirm eines Computers als vor dem weißen Bogen Papier auf ihrem Schreibtisch. Als sie die Bücher eines Tages nur noch auf ihrem Bildschirm sah, entschloss sie sich, abends nach der Arbeit bei einer Buchbinderin das Buchbinden zu lernen. Sie verließ den Verlag und suchte sich einen kleinen Laden am Mehringdamm, nicht weit von der Bergmannstraße.
Da wohnt sie nun, die Papierkönigin, in einem großen, lichten Raum, in dem es ganz wunderbar nach Papier duftet, und in dem es viele Fächer voller Papiere gibt, Papiere in allen Farben, Größen und Stärken, Papiere in Büchern, Bögen und Tüten. Der Laden ist ein Paradies für Papierköniginnen.
Alles hier ist aus Papier: Die Kleidchen im Schaufenster, die Blumenvasen mit den Papierblumen, sogar die Teller sind aus gefaltetem Papier. Auch die Regale sehen aus, als seien sie aus elfenbeinfarbenem Papier errichtet, und aus den Lampen fließt das Licht so weich, wie es sonst nur aus chinesischen Reispapierleuchten leuchtet. Dabei sind sie aus echtem Glas.
Eindeutig nicht aus Papier ist allein die Papierkönigin. Anette Zahl wusste, was sie wollte: »Sie wollte etwas anderes machen als McPaper!« Tatsächlich ist bei der Papierkönigin alles etwas anders. Sogar das Geschenkpapier. Geschenkpapier gibt es auch bei der Post, bei Lidl und bei Karstadt. Aber ein Geschenkpapier wie bei der Papierkönigin gibt es sonst nirgends. Es ist wie bei den Büchern: »Die Verpackung muss mit dem Inhalt harmonisieren. Das Papier muss dem Geschenk entsprechen!«

Deshalb hat Anette Zahl Geschenkpapiere, die sind bedruckt mit orangefarbenen Orangen und zitronengelben Zitronen. Für die Freunde des Mittelmeeres. Sie hat Papiere, die sind wie ein Dschungel voller bunter Vögel. Für angehende Ornithologen. Und sie hat Papiere, die sind wie ein Aquarium, da treiben vor dem blauen Hintergrund die schlanken Gestalten eleganter Schwertfische (Xiphias Gladius), übellauniger und breitmauliger Barsche (Sparus Auralus) und fruchtig roter Scherenkrebse (Palimulus Vulgaris). Alle mit lateinischen Namen versehen. Für die Aquarianer. Es gibt Papiere wie endlose Weiden mit den eleganten Gestalten wilder Pferde, oder Papiere, die bedruckt sind mit kunstvollen Unterschriften, rätselhaften Schriftzeichen und unentzifferbaren Hieroglyphen; und es gibt Papiere voller Rosen und Blüten und voller orientalischer Ornamente. Keines ähnelt dem anderen, doch alle sind so schön, dass man sie, kaum hat man einen Bogen gekauft, gar nicht mehr verschenken möchte.

Ganz hinten, im eichendunklen Regal, hat die Königin der Papiere ihre Schätze. Da liegen Papiere aus Italien und aus Indien. Da liegen die goldenen, elfenbeinfarbenen, purpurroten Bögen von Gmund, »seit 1829«. Papiere wie aus 1001 Nacht, samtig und »aus echtem Kaschmir«.
Foto: Privatarchiv
Bögen, die schimmern wie fernöstliche Buddhastatuen. Papiere ohne Laufrichtung, elastisch in alle Richtungen. Papiere, die jeden, der sie in der Hand hält und der mit den Fingerspitzen darüber fährt, weit fortführen vom alltäglichen Papier mit seinen alltäglichen Nachrichten. »Das Haptische«, sagt die Papierkönigin, ist eines ihrer Lieblingswörter geworden, seit sie »vom Digitalen zum Analogen heimgekehrt« ist. Es ist ein Wort, das jeder versteht, auch wenn er es nie zuvor gehört hat. Papier ist schöner als ein Bildschirm. Papier fühlt man.

»Kürzlich war eine Frau hier, die kaufte sich einen von diesen samtweichen Füllfe-
derhaltern und einige Bögen Schreibpapier.« Sie schreibe keine Emails mehr, sie schreibe ihren Kindern wieder mit Papier und Stift, erzählte die Dame. »Eine Stunde später sehe ich sie, wie sie in der Bergmannstraße beim Inder sitzt und schreibt.« Das freute die Königin.
Es gibt so vieles im Reich der Papierkönigin: Obstschalen, Vasen, Teller, Faltobjekte, Notizbücher, Bewerbungsmappen, Schatullen, Grußkarten, Geschenktüten, Postkarten. Lauter schöne Sachen aus Papier. Nur das Alltägliche gibt es bei ihr nicht. Für Rechnungsblöcke oder Vordrucke fürs Finanzamt hat sie keinen Platz in ihren Räumen. Denn hier, bei ihr, hat das Leben noch die Leichtigkeit von Papier. •


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