Kreuzberger Chronik
Oktober 2009 - Ausgabe 111

Reportagen, Gespräche, Interviews

Ärger mit der Schule


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von Michael Unfried

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Immer mehr Eltern sind über das Schulsystem in Berlin verärgert. Auch in diesem Jahr sorgten die Erstklässler wieder für zündenden Gesprächsstoff.

IM JAHr 1917 war die Welt noch in Ordnung. Die Lehrer waren zwar schon damals streng und auch manchmal ungerecht, doch die Schüler lernten etwas. Hundert Jahre später sieht es anders aus. Die Ergebnisse der »Pisa-Studie« bestätigten Deutschland eine miserable Bildungspolitik, worauf die Politiker, für die Bildung stets nur ein lästiger Kostenfaktor war, plötzlich Handlungsbedarf sahen.
Hals über Kopf wurden neue Schulsysteme installiert, die auf eine intensivere Beschulung des Nachwuchses setzen. Was den Politikern dabei vorschwebte, »muss eine Art Nürnberger Trichter gewesen sein«, kommentiert ein ehemaliger Pädagoge die panische Aktion. »Als wäre der sechsjährige Mensch ein hohles Gefäß, in das man Wissen schütten könne. Kinder lernen aber nicht automatisch mehr, wenn man sie länger in die Schule steckt.«
Im Gegenteil: Schon in den Siebzigerjahren belegten Studien, dass Internate und Erziehungsheime zu Defiziten nicht nur im Sozialverhalten, sondern auch in der Bildung führten. In Heimen wird den Jugendlichen vor allem beigebracht, »dass es keinen Zweck hat, sich zu wehren oder etwas anderes zu wollen«, schrieb Ulrike Meinhof über eine Pädagogik, die in den 90ern »erzieherische Hilfe außerhalb des Elternhauses« hieß.
Dennoch setzt man heute wieder auf außerhäusliche Erziehung. Schon die Siebenjährigen haben 27 Stunden Unterricht in der Woche und nicht selten sechs Stunden am Tag. Nach einer Pause kommt das Essen, dann geht es zurück in die Schule zu den Hausaufgaben. »Das ist so, als hätten wir zu unserer Schulzeit jeden Tag nachsitzen müssen!«, sagt der Pädagoge. »Und was glauben Sie, was man mit einem sechsjährigen Kind noch anfangen kann, das bis vier Uhr nachmittags mit 150 Kindern auf vielleicht 400 Quadratmetern hockt?«
Allmählich mehren sich die kritischen Stimmen zur Schulreform. es ist deutlich geworden, dass die Vorraussetzungen für einen Ganztagsbetrieb in den Berliner Schulen fehlten. Die Lehrkräfte sind für den Unterricht mit erst-, Zweit- und Drittklässlern in einem gemeinsamen Schulzimmer nicht ausgebildet und häufig überfordert. Zudem herrscht nach wie vor ein Mangel an Lehrkräften.

Auch in den angegliederten Horteinrichtungen fehlt es an Personal und Räumlichkeiten. Im einst viel gelobten »Kinderhaus am Kreuzberg«, das der Senat trotz großer Proteste und vieler Auszeichnungen schloss, (Vgl. Kreuzberger Chronik vom Februar 2005) waren seinerzeit ca. 100 Kinder untergebracht. Heute sollen die gleichen Räume für 160 Schulkinder der Adolf Glasbrenner Schule reichen. Die Diakonie als privater Träger des Hortes beantragte gemeinsam mit der Schulleitung Gelder für einen Ausbau, doch der Senat beschied, »die Schule sei ausreichend mit Hortplätzen ausgestattet«. Ein Sprecher der Diakonie bezeichnete dies wörtlich als »Unverschämtheit«. Um wenigstens ein bisschen Raum dazu zu gewinnen, wurden aus EU-Geldern eine Bibliothek eingerichtet und der Hof ausgebaut.
Nur mit derartigen Finanzierungs-Manövern können engagierte Schulleiter ihren Bildungsauftrag noch halbwegs erfüllen. Doch die vielen Unstimmigkeiten verunsichern die Eltern, und wenn diese sich bislang vor allem deshalb in anderen Vierteln anmeldeten, um ihr Kind auf eine Schule mit hohen Bildungsniveau schicken zu können, so suchen sie heute immer öfter nach Schulen, aus denen sie ihre Kinder möglichst bald wieder abholen können.
Doch das Angebot an Halbtagsschulen ist begrenzt,an guten Halbtagsschulen noch begrenzter. Deshalb zog Peter Müller vorsorglich in eine andere Straße. Aber »es vergingen keine zwei Wochen, da stand der Hausmeister der Schule vor der Tür und wollte wissen, ob das Kind auch tatsächlich hier wohne. Das ist doch Wahnsinn: Da schickt der Schulmeister den Hausmeister los, um auszuspionieren, ob sich die Eltern den Schulplatz vielleicht ergaunert haben. er sollte froh sein, dass es eltern gibt, die sich um ihre Kinder kümmern, anstatt sie in Blumenkästen zu verbuddeln!«
Nicht immer kommt der Hausmeister persönlich. Eine Kreuzberger Mutter erzählt, dass sich das so genannte »Back-Office« telefonisch bei ihr meldete und wissen wollte, ob ihr Kind tatsächlich dort wohne. Zum Beweis verlangte das »Office« sogar eine schriftliche Stellungnahme des Vermieters. »Gott sei Dank hab ich ein gutes Verhältnis zum Hauseigentümer.«

Auch an einer der beliebtesten Kreuzberger Schulen, an der Reinhardswald Grundschule, gab es Probleme. Als einzige in Kreuzberg bietet die innovative Bildungsanstalt sowohl Unterricht in der geschlossenen Ganztagsschule als auch in der Halbtagsschule an. In den vergangenen Jahren funktionierte das zweigleisige Modell, und auch in diesem Mai konnte die Schulleitung vielen Eltern noch »mit Freude die Nachricht zukommen« lassen, dass ihr Kind »zu den Aufgenommenen gehört«. Doch im Juni wurde die Freude einiger Eltern erheblich getrübt. In einem Schreiben hieß es: »Sie haben bei der Anmeldung den (unverbindlichen) Wunsch geäußert, ihr Kind halbtags beschulen zu lassen«. Doch leider hatte sich herausgestellt, dass für elf Kinder kein Platz in der Halbtagsschule sei. Die Schulleitung bedauerte dies, machte aber gleichzeitig deutlich, auf keinen Fall »von dieser (nicht mehr veränderbaren) Entscheidung abzuweichen. Ein Einspruch Ihrerseits ist leider (vorsorglich) abzuweisen.« Mit einem Wort: Die Kinder sollten bis 16 Uhr in der Schule bleiben. Einige Eltern meldeten ihre Kinder auf anderen
Schule an, andere fügten sich ins Schicksal. Auch eine Mutter, die bereits zwei Kinder halbtags an der Schule und nachmittags in einem der kooperierenden Schülerläden untergebracht hatte. Da die Mutter berufstätig ist, hätte sie ihre Kinder gern alle zusammen im gleichen Schülerladen gehabt, doch plötzlich war kein Platz mehr frei für das dritte Kind. Nun muss eines in die Ganztagsschule, die andern Beiden dürfen mittags heimgehen. Eine andere Mutter zog bereits eine Klage in Erwägung, als sich plötzlich noch der gewünschte Schulplatz fand.

Klaus Lückert aber hatte weniger Erfolg. Obwohl er und seine Frau zunächst einen langen und freundlichen Brief geschrieben hatten, in dem sie sich zuversichtlich äußerten, dass eine »für beide Seiten befriedigende Lösung« gefunden werden könne. Auch persönlich sprach der Vater beim Schulleiter vor und erklärte, dass er sich gern selbst um seinen Sohn kümmern würde, wenn er Zeit dafür habe. Der Schulleiter schien Verständnis zu haben, natürlich könne der Vater seinen Sohn auch einmal früher abholen – »ausnahmsweise natürlich«. Auf einer Informationsveranstaltung für die Schulneulinge allerdings sprach der Schulleiter von »Eltern, die sogar noch Zeit hätten, nachmittags mit ihren Kindern spazieren zu gehen!«
Da Lückert auch auf den freundlichen Brief keine Reaktion erhalten hatte, schaltete er den Anwalt ein. Die Antwort ließ keine 24 Stunden auf sich warten. In einem dreiseitigen Brief rechtfertigte der Schulleiter gegenüber dem Anwalt die Entscheidung, das Kind nicht halbtags zu »beschulen«, mit Berufungen auf das Schulgesetz. Insbesondere verwies er darauf, dass bei einer Klassenstärke von 28 Schülern die Obergrenze erreicht sei, und fügte hinzu, dass er einem juristischen »Hauptsacheverfahren mit großer Gelassenheit« entgegensehe, und dass es für ihn »rätselhaft« sei, worauf sich der Antrag des Anwaltes stütze, da eine »gefühlte Rechtsverletzung nicht zu den harten Kriterien zähle«.
Was für den einen juristisch nicht fundiert schien, bereitete dem anderen »schlaflose Nächte«. Immer wieder gingen Lückert die Formulierungen durch den Kopf, mit denen der Schulleiter auch im Brief an den Anwalt nochmals darauf verwies, dass dessen Mandant »übrigens keine qualitativen Aspekte anführe«, sondern seinen Bruno lediglich »zu Ausflügen und zum Spielen« abholen wolle, um ihn »von der organisierten Betreuung fernhalten zu können.«
Genau um die Freizeit und das Spielen aber geht es Brunos Eltern. Sie wissen, wie turbulent der Alltag in der Schule ist. Schließlich steht die Mutter selbst jeden Tag vor einer Kreuzberger Grundschulklasse. Sie weiß auch, dass Schulleiter durchaus die Möglichkeit haben, eine Schulklasse mit einem weiteren Schüler zu besetzen, wenn es plausible Gründe dafür gibt. Und wenn sich Eltern gegen einen Ganztagsunterricht sträuben, dann ist das ein Grund. »Denn die Erziehungsverantwortung liegt schließlich noch immer bei den Eltern!«

Zwei Wochen nach dem Schulbeginn gab der Schulleiter den dringenden Bitten der Eltern nach. Bruno durfte die KIasse wechseln. Das späte Einlenken des Schulleiters indes war keine späte Einsicht. Es war ein Akt der Milde. Die Politik, wie auch die Schulleitungen als ihre ausführenden Organe, haben eine klare Marschrichtung vorgegeben: Die Leistungen müssen besser werden. Und sie sind bereit, dafür jeden Preis zu zahlen. Auch den einer verlorenen Kindheit. •


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