Kreuzberger Chronik
November 2009 - Ausgabe 112

Strassen, Häuser, Höfe

Die Sebastianstraße


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von Werner von Westhafen

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Am 2. Juli 1694 erhielt die St. Petri-Gemeinde einen Prediger für die Vorstadt.
Das Datum gilt als die Geburtsstund
e der Luisenstadtgemeinde.


DIE STADT war noch winzig. Die Karte der »kurfürstlich brandenburgischen Residenzstädte an der Spree« zeigt fünf kleine Siedlungen innerhalb der Zollmauern. Sie nennen sich Fridrichswerder, Cölln, Berlin, Dorotheen- und Fridrich-Stadt. Vor den Mauern im Süden lagen, nur von wenigen Wegen durchkreuzt, die Wiesen des Köpenicker Feldes. Einer dieser Wege trägt schon früh einen Namen: Die »Kirchgasse« führte zu einer Kirche, die schon auf der Karte von 1698 eingetragen war, und die zu dieser Zeit Sebastiankirche hieß.

Zunächst war sie nicht mehr als ein Bretterverschlag, ein Unterstand vor den Launen des Wetters, den die St. Petri-Gemeinde aus Cölln errichtet hatte, als sie den Rübenacker zum Gottesacker machte, weil es innerhalb der Stadtmauern zu eng geworden war. Doch die Zahl jener, die sich im ersehnten Frieden nach einem 30jährigen Krieg auch vor den Stadtmauern niederließen, wuchs beständig, und die St. Petri-Kirche war schon bald zu klein für all die Sündigen. Immer wieder mussten die Menschen, die zur Beichte nach Cölln wanderten, ihre Sünden wieder mit nach Hause nehmen. Der Ansturm war gewaltig.
Um dem Unfrieden vor den Toren ein Ende zu bereiten, installierte Kurfürst Friedrich III. im Juli 1694 einen jungen Theologen namens Possart als Prediger für die Cöllner Vorstadt, der seinen Gottesdienst bei schönem Wetter unter freiem Himmel, bei Regen im hölzernen Unterstand auf dem Feld abhielt. Im Winter lud er die Schäfchen in sein Haus, doch der Oberkirchenvorsteher drängte auf den Bau einer ordentlichen Kirche. Schon im nächsten Sommer konnten die Vorstädter im Trockenen beten, und die Kirche erhielt zu Ehren des emsigen Kirchenvorstehers dessen Namen: Sebastiankirche. 1839 wurde auch der einstige Feldweg nach ihm benannt. Die Straße trägt den Namen noch heute.
Während im Zentrum der heranwachsenden Stadt Prestigegebäude wie die Parochialkirche oder die Französische Kirche auf dem Gendarmenmarkt entstanden, blieb die Kapelle auf dem Land bescheiden. Baumeister Grünberg hatte ein schlichtes Kreuz als Grundriss gewählt, die Wände in Fachwerktechnik errichtet und dem Haus nur ein kleines, hölzernes Türmchen aufgesetzt.
Die Luisenkirche nach dem Krieg Foto: Kreuzberg Museum

So unauffällig die Architektur war, so eigenwillig verhielten sich die Anhänger Luthers in der exponierten Vorstadtgemeinde. Als der Kurfürst, ein Freund der Reformisten, die »lutherischen Zeremonien mit ihren noch vorhandenen papistischen Elementen wie dem Tragen weißer Chorröcke und dem Kreuzschlagen in den neu gebauten Kirchen« verbot, gingen die Vorfahren der Kreuzberger in den Widerstand. Sie weigerten sich, die umstrittenen Röcke abzulegen und zeigten sich sogar anlässlich der offiziellen Einweihung der Kirche in Weiß. Da wurde der Kurfürst ärgerlich. Der Probst verfasste einen Brief und stellte fest, dass ein weißer Rock noch nichts Unchristliches sei – »und im Übrigen sollte man die alten Bräuche besser langsam und behutsam abschaffen« –, doch der Kurfürst blieb hart. Daraufhin weigerten sich die Prediger der St. Petri Gemeinde, ihre Toten auf dem neuen Friedhof zu beerdigen, und begleiteten die Verstorbenen fortan bis zur Gemeindegrenze an die Köpenicker Brücke, um ihre Lutheraner nach gewohnter Art auf einem alten Hof in der Nachbargemeinde zu bestatten.

Fünfzig Jahre später bedrohte nicht die Reform, sondern das Hochwasser die Kirche. Der inzwischen stattliche Glockenturm drohte einzustürzen, weshalb man die Glocken herunternahm und neben der Kirche aufhängte. Man sammelte Geld für ein neues Gebäude, bettete 300 Tote um und legte 1751 den Grundstein für den Neubau. Die neuen Baumeister stellten das Gotteshaus auf ein hochwasserresistentes Steingewölbe und richteten 27 Leichenkammern mit Licht- und Luftschächten ein, die den Verstorbenen ein ewiges Leben als Mumie garantieren sollten. Die neue Kirche war größer als die alte und komplett aus Stein, nur der Turm war nach wie vor aus Holz und blieb 98 Jahre lang das bescheidene Wahrzeichen der Sebastiankirche. Längst war der Kirchhof der Gemeinde zum Südstern verlegt worden, längst diente der ehemalige Rübenacker den Gemeindemitgliedern, die für geringes Entgelt einen Schlüssel erhielten, als Park für den Müßiggang. Auch die beliebte Königin Luise war längst gestorben, die Cöllnische Vorstadt ihr zu Ehren in Luisenstadt umbenannt, auch die Kirche hieß bereits die »Luisenstädtische«, als sie endlich ihren lang ersehnten steinernen Turm erhielt. Nur vier Monate fehlten ihm, dann wäre er 100 Jahre alt geworden.
Doch am 3. Februar 1945 fielen Bomben. Auch in den steinernen Gewölben, die das Gotteshaus vor dem Hochwasser schützen sollten, suchten die Menschen Zuflucht, unter ihnen auch die Kinder des Kindergartens. Niemand überlebte. 130 Gläubige versammelten sich zur Trauerfeier im Keller des Gemeindehauses, »es fehlte jede Beleuchtung, es fehlte ein Altar, es fehlten Bänke, es fehlte ein Talar, es fehlte alles...« schrieb später Pfarrer Braun.

Nach dem Krieg wurde der Park zum Sperrgebiet. 1964 die Ruine gesprengt. Nach dem Fall der Mauer wurde der Park wieder hergestellt, und nun graben Schüler unter der Schirmherrschaft des Bürgervereins Luisenstadt und des Bezirksmuseums in den Ruinen nach Spuren der Vergangenheit, um »der Geschichte auf den Grund zu gehen«. •



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