Juni 2009 - Ausgabe 108
Geschichten & Geschichte
Felix Mendelssohn in Kreuzberg von Helmut Unverzagt |
Es gibt keinen Beleg dafür, dass der Komponist dem Viertel mit den Biergärten am Kreuzberg die Ehre erwies. Für wahre Kenner allerdings auch keinen Zweifel. IM ZWEIHUNDERTSTEN Geburtsjahr Felix Mendelssohn Bartholdys ist es nur verständlich, dass der kultivierte Kreuzberger den Wunsch verspürt, wenigstens eine Spur vom Glanz des großen Komponisten möge auch Kreuzberg erhellen. Also macht er sich auf, um eine Kirche, ein Theater oder einen Konzertsaal in Kreuzberg zu finden, wo der Jubilar einen Klavierabend gegeben, die Orgel gespielt oder einen Chor geleitet haben könnte. Felix und seine Schwester Fanny waren schon im Kindesalter nicht nur in Berlin, sondern in fast allen wichtigen Metropolen Europas aufgetreten. Der junge Felix genoss schon früh den Ruf des Komponisten und Pianisten, mit 23 Jahren kandidierte er für das Amt des Dirigenten der Berliner Singakademie. Doch nirgends findet der ehrgeizige Kreuzberger einen Hinweis auf Mendelssohns Wirken jenseits des Halleschen Tors. Vergebens sucht er nach dem Gasthaus mit der in Stein gemeißelten Inschrift »Seit 1825« und einer kleinen Gedenktafel im Schankraum: »Hier speiste Felix Mendelssohn Bartholdy«. Ein Blick auf den historischen Stadtplan zeigt, dass Mendelssohn womöglich keinen geeigneten Konzertsaal fand. Vom Halleschen Tor nach Süden erstreckten sich Wiesen und Äcker, die Hänge des Kreuzberges waren noch mit Wein bepflanzt. Das Hebbeltheater, in dem er wegen der berühmten guten Akustik vermutlich »Die Hochzeit des Camacho« uraufgeführt hätte, gab es noch nicht, und für die Open Air Festivals auf Wiesen und Stoppelfeldern war die Zeit auch noch nicht reif. Doch ganz umsonst waren die Anstrengungen des kulturbeflissenen Kreuzbergers nicht, denn in einer alten Kaschemme machte er die Bekanntschaft eines jovialen älteren Herren mit gepflegtem Menjou-Bärtchen. Als der Name Mendelssohn Bartholdy fällt, stutzt er: »Watt’n, Mendelssohn? Bartholdy? Den sein Jrab ha ick doch inne Siebzijer jefleecht. Det wa ja völlich vawildert!« Der Kreuzberger erfährt, dass der Friedhofsgärtner vor mehr als dreißig Jahren damit beauftragt wurde, die Instandsetzungsarbeiten des vernachlässigten Dreifaltigkeits-Friedhofs an der Baruther Straße zu leiten. Und dass bis heute manchmal eine Urenkelin der Familie Mendelssohn auf dem Friedhof vorbeischaut, die in der Nähe wohnt. Heute ist das Grab in gutem Zustand, sogar frische Schnittblumen wurden offensichtlich erst kurz vor dem Eintreffen der Mendelssohn-Forscher von einem unbekannten Verehrer am Fuß des weißen Steinkreuzes niedergelegt. Neben Felix liegt sein Schwager Wilhelm, auch die Eltern Lea und Abraham sind da. Sie waren zum protestantischen Glauben übergetreten, um sich die Emanzipation im Bildungsbürgertum zu erleichtern, auch Fanny und Felix wurden getauft. Doch trotz Die Grabstätte der Mendelssohns in Kreuzberg Foto: Dieter Peters
Angesichts dieses Familiengrabes spürt der Kreuzberger Genugtuung. Denn wenn die Stadt Bonn stolz darauf war, ohne ihr geringstes Zutun einen Beethoven hervorgebracht zu haben, dann kann Kreuzberg zumindest darauf stolz sein, dem Komponisten Mendelssohn eine würdige Ruhestätte gegeben zu haben. Auch die geliebte Schwester Fanny, die nur ein halbes Jahr vor Felix starb, liegt neben ihm im Familiengrab. Hätte sie sich nicht dem Zeitgeist beugen müssen, der einer Frau die Fähigkeit absprach, musikalisch schöpferisch sein zu können, und damit ein Kompositionsverbot postulierte, dann hätte man sie gefördert, anstatt sie zur dienenden Ausführenden der männlichen Schöpfung zu machen. Womöglich hätte sie ihrem Bruder in nichts nachgestanden. Man höre nur die wenigen bekannt gewordenen Kammermusikwerke. Wer hat von wem gelernt? Doch wir überlassen die Beantwortung dieser Frage den musikwissenschaftlichen Erbsenzählern und verlassen, unter Missachtung jeglicher historischer Correctness, den Boden gesicherter Tatsachen. Wir steigen an einem warmen Sommernachmittag vor der Villa der Mendelssohns in der Leipziger Straße 3 in eine Kutsche, zusammen mit drei jungen Leuten. Felix, 17 Jahre alt, Fanny und Wilhelm Hensel. Wir fahren, von späteren Biografen und Musikwissenschaftlern unbemerkt, durch das Hallesche Tor nach Süden. Das neue Schinkel-Denkmal ist schon zu sehen. Die Kutsche hält am Bergmannschen Hof und die drei jungen Leute steigen in die Weinberge. Fanny und Wilhelm sind schrecklich verliebt, der Ausflug wurde nur genehmigt, weil Felix dabei ist. Er hat Notenpapier mitgebracht und will sich ein paar Ideen notieren, möchte aber lieber allein sein. Die Beiden haben nichts dagegen, man vereinbart, sich bei einbrechender Dunkelheit im Dusteren Keller zu einem Glas Wein zu treffen. Wir sind schon dort. Felix kommt zuerst zurück, setzt sich an den Tisch, seine Notenblätter sind voll geschrieben, ab und zu streicht er, schreibt Neues dazu. Es ist schon Nacht, als die Verliebten endlich kommen. Fannys Wangen sind gerötet, sie nestelt an ihrem Kleid. Man bestellt eine Flasche »Kreuzberg Schattenseite«. Fanny will unbedingt die Notenblätter haben, aber Felix ziert sich. In einem unbemerkten Augenblick kann sie ihm einige Blätter entwenden und überfliegt sie hastig. Plötzlich stößt sie kleine spitze Schreie aus, klatscht in die Hände, tanzt durch den Schankraum und ruft immer wieder: »Ein Sommernachtstraum! Du Glücklicher! Es ist ein Sommernachtstraum!« Wir drücken uns noch weiter in unsere dunkle Ecke und beschließen, bis zum Jahr 2009 absolutes Stillschweigen zu wahren. • |