Kreuzberger Chronik
Februar 2009 - Ausgabe 104

Literatur

Geboren 1924


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von Irmgard Ernst

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>Ich war ungefähr 12 Jahre alt, als wir in der Schule dazu aufgefordert wurden, unseren »arischen« Pass zu erstellen. Ich ahnte ja nicht, was damit auf mich zukommen sollte! Unser Familienstammbaum war mir über die Generation meiner Großeltern hinaus nicht bekannt, und so bat ich meine Mutter, mir bei dieser Aufstellung zu helfen. Sie meinte jedoch, es sei besser, darüber abends gemeinsam mit meinem Vater zu sprechen. An diesem Abend erklärten mir meine Eltern, dass sie nicht meine leiblichen Eltern wären, sondern mich adoptiert hätten. Ich erinnere mich noch sehr gut an mein totales Unverständnis. Wovon redeten sie überhaupt? Wie war das gemeint? (...)

Mein Vater hatte als Kommunist im Untergrund aktiv gegen Hitler gearbeitet, mitbekommen habe ich davon allerdings nichts. Mir fiel nur auf, dass er mit dem Regime in keinster Weise einverstanden war, was er auch deutlich zeigte: Kein SA-Mann in Uniform durfte sein Geschäft betreten, er wurde sofort hinausgeworfen. Wenn neue Nazi-Bestimmungen erlassen wurden, machte er genau das Gegenteil. Wenn Verdunklung angesagt war, ließ er alle Lampen brennen. Und im Luftschutzkeller schimpfte er laut gegen »Hitler und Konsorten«. Meine Mutter musste ihn mitunter regelrecht bremsen, es war ja nicht ungefährlich, sich öffentlich so gegen den »Führer« zu wenden.

Dieses Verhalten machte mich natürlich nachdenklich, aber erst folgendes Erlebnis im BDM brachte mich endgültig zur Besinnung. Meine guten Stenografie-und Schreibmaschinenkenntnisse mussten dem Ortsgruppenleiter der Gruppe Kreuzberg in der Wiener Straße 60 zu Ohren gekommen sein, denn ich bekam 1944 die Aufforderung, einmal pro Woche zum Maschinenschreiben zu kommen. Natürlich unentgeltlich! Wenn ich dort war, hörte ich öfter, wie die Männer sich untereinander vor meinem Vater warnten: »Geh bloß nicht zu dem Frisör am Spreewaldplatz, der schmeißt dich raus!«, dachte mir aber nichts dabei. Meine Aufgabe war es, mir vorgelegte Listen mit der Schreibmaschine abzuschreiben. Endlose Namenlisten. Alles Namen, die mir nichts sagten, bis ich auf einmal auf Heinrich Leich stieß. Was, HEINRICH LEICH? Was hatte der Name meines Vaters da zu suchen? Überhaupt, was waren das für Listen? Ich ging sofort zum Ortsgruppenleiter: »Was soll der Name meines Vaters auf der Liste?«

»Was, das ist DEIN Vater?« Er war völlig überrascht, schließlich war ich dort nur mit dem Vornamen bekannt. »Gib die Liste her!«, meinte er und zerriss sie vor meinen Augen. Mir wurde schlagartig klar, welch schreckliche Art von Listen ich geschrieben hatte. Die Namen von Menschen, die abgeholt wurden.

Entnommen aus: »Geboren 1924 - Ein Berliner Frauenleben«, Irmgard Ernst, 2008, trafo-Verlag, ISBN 978-3-89626-730-6, 12.80 Euro


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