Kreuzberger Chronik
November 2008 - Ausgabe 102

Mein liebster Feind

4. Brief


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von Karl Hermann und Doktor Seltsam

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Sind Kreuzbergs Analphabeten die neue Avantgarde? Ja, sagt der Doktor, weil sie sich von den bösen Kapitalisten nicht für die Ausbeutung »zurichten« lassen!

Man muss schon ziemlich verzweifelt sein, um den fröhlichen Bildungsnotstand mit der ausgeleierten Mehrwert-Theorie von Karl Marx zu erklären. Insbesondere, wenn die Betroffenen mit diesem staubtrockenen Exkurs etwa so viel anfangen können wie Kader Loth mit der deutschen Grammatik. Schon komisch, wenn der Doktor einerseits beflissen mit seinen »Kapital«-Kenntnissen protzt, andererseits aber den Lernstreik der voll verstöpselten Handy-Hybriden für eine legitime Verweigerungshaltung im Spätkapitalismus hält: »Nah, yaparim! Bok yaparim!«

Ist doch kompletter Unsinn! Was hat das Verfassen vollständiger Sätze mit der kapitalistischen Ausbeutungspraxis zu tun, wie es Dr. Seltsam bemerkenswert theoriefern unterstellt? Wenn schon Marx, dann richtig: Bildung gehört nicht zum Mehrwert, sondern ist Reproduktionsleistung der Arbeitskraft. Zwar hat auch Louis Althusser die soziale Reproduktion als Teil einer »ideologischen Unterwerfung« betrachtet, doch damit war die kollektive Einübung gesellschaftlicher Normen und Praxen gemeint, und nicht die Frage, ob der Genitiv im Kreuzberger Kiez noch eine Chance hat. »Wenn ich 16 Jahre alt wäre, wäre ich auch lieber Rapper oder Gangsta, als ein braver Arbeiter für diese Scheißkapitalisten«, sagt der Doktor -und wäre dafür von Karl Marx mit ziemlicher Sicherheit als Lumpenproletarier ohne Klassenbewusstsein abgestempelt worden.

Der Witz ist doch, dass sich die linke Bohème - beziehungsweise das, was von ihr übrig geblieben ist – an Commandante Che Guevara besoffen singt (etwa nachts um halb drei im Heidelberger Krug), während das Objekt der Guevaraschen Befreiung – der Gangsta-Rapper - mit viel Bling-Bling die dekadenteste Form des kapitalistischen Warenfetischs repräsentiert. Mit Goldkettchen behängt wie ein anatolischer Pfingstochse!

So sieht sie aus in Kreuzberg: die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Während die Bergmannstraße mit neuen Coffee-Shops und Bars einer szenetypischen Gentrifizierung entgegensegelt, träumen die Alt68er noch vom revolutionären Kreuzberg. Doch das existiert nur in den Sprechzetteln der Stadtführer, die ihre Busse durch den voll möblierten Erlebnisraum dirigieren wie venezianische Gondoliere ihre Boote durch den Canale Grande: »Sehen Sie da vorne, in der Schenkendorfstraße, da war mal das Volksgefängnis von Peter Lorenz.«

Eine Runde Gruseln für Studienräte aus der Schwäbischen Alb. Der Rest ist Schweigen, während die Revolution in der Vitrine schlummert, als Postkarte oder Poster. Zum Zeichen, dass jede Bewegung irgendwann nur noch Teil einer Verwertungskette ist. • Karl Hermann


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