Kreuzberger Chronik
März 2008 - Ausgabe 95

Die Reportage

Tanztee für die reifere Jugend


linie

von Hans W. Korfmann

1pixgif
Der Tanzpalast liegt zwischen dem »Club Monte Carlo« und der schmucklosen Halle der LPG. Dahinter erstreckt sich der triste Hof des Finanzamtes mit seinen öligen Autoreparaturwerkstätten. Kaum ein anderer Fleck Kreuzbergs vermittelt noch so viel Nachkriegstrostlosigkeit wie dieser Platz mit seinen Garagen. Dennoch ist die Obentrautstraße für viele ein Trost, und sonntags, da stehen die Menschen hier manchmal in einer kleinen Schlange und warten darauf, daß sich endlich die Türen öffnen. Als wäre dies ein wirklicher Palast. Schon eine halbe Stunde vor Beginn des »Tanztees für einsame Herzen« stehen sie da.

Daß die Veranstaltung eher »für die reifere Jugend« gedacht ist, beweist ein Schild an der Garderobe im Erdgeschoß. Einlaß nur für jene, die das 26. Lebensjahr vollendet haben. Auch das Dressing muß stimmen, im Tanzpalast gilt noch die Kleiderordnung aus den Zwanzigern. Jeans und Turnschuhe sind ausgeschlossen, strahlend weiße Hemden, Schlips und Kragen dagegen sind auf dem Parkett keine Seltenheit. »Es ist schon passiert, daß die Herren wieder gegangen sind, sich umgezogen haben und eine Stunde später zurückkamen!«, erzählt die Frau an der Garderobe.

Während die Herren gern Schwarz-Weiß kommen, tragen die Damen auch fern der Silvesterzeit grellbunte Blümchenkleider, weiße Rüschenblusen, auch mal goldene Gewänder zu silbernen Handtäschchen und roten Schuhen. In den hochgesteckten und am liebsten blonden Haaren stecken schwarze, perlenbestickte Schleifen und erinnern an eine Zeit, die noch vor den Roaring Fifties gelegen haben muß.

Der Tanzpalast ist einer der letzten seiner Art. Außer Clairchens Ballhaus und dem Café Keese gibt es für Tänzer alter Schule kaum noch Auftrittsmöglichkeiten. Zuletzt haben auch die Terrassen am Tegeler See mit ihrem Tanztee geschlossen, und Jahre ist es her, daß im legendären Tanzpalast am Bahnhof Zoo eine kesse Sohle aufs Parkett gelegt wurde. Das Etablissement im ersten Stock über der Skihütte war einer der ersten, nach dem Krieg notdürftig aus herrenlosen Klinkern und Dachlatten zusammengeschusterten Tanzschuppen, in denen das Leben irgendwie weiterging. Vor kurzem wurde auch diese Schmuddelecke endgültig abgerissen.

Dafür gibt es nun einen »Tanzpalast« in Kreuzberg. Das Tanzen in Kreuzberg hat schließlich Tradition. Entlang der Hasenheide reihte sich einst ein Tanzsaal an den anderen. Einer der berühmtesten war der Hofjägerpalast, ein anderer die Neue Welt. Doch die Neue Welt ist alt geworden, längst haben Clubs, Diskotheken und Partyräume die feinen Tischlokale abgelöst, in denen ein Ober einer Dame noch ein kleines Zettelchen vom Herrn am Tisch Nr. 32 überreichen konnte. Vorbei sind die Zeiten, als es in Cafés und Gartenlokalen den Tanztee gab.

In der Obentrautstraße aber steigen Punkt drei Uhr die ersten Tänzerinnen und Tänzer die mit grauem Linoleum belegten Stufen in den ersten Stock hinauf, in dem früher ein Polsterer sein Lager hatte. In der Ecke des Treppenhauses hängt etwas schlaff die überlebensgroße Figur eines Weihnachtsmannes und beäugt die Herren, die noch einmal kurz den elektrischen Schuhputzer benutzen, um das Leder auf Hochglanz zu bringen. Die Damen werfen einen letzten Blick in den großen Spiegel vor dem Eingang, dann stürzen sie sich ins Abenteuer.

Halb vier. Inge und Herta tanzen schon den fünften Tanz. Sie sind immer die ersten auf der Tanzfläche. Und die letzten, die gehen. Sie lachen und haben längst vergessen, daß hinter den roten Vorhängen des Palastes das trostlose Grau der 50er Jahre Fassaden an einem verregneten Winternachmittag liegt. Unablässig blinken kleine Lichterketten an den Wänden, von der Decke hängen seit Silvester grellbunte Papiergirlanden, und über der Tanzfläche dreht sich langsam und unermüdlich wie die Erde eine kleine, glitzernde Diskokugel. Das wichtigste aber sind die roten Vorhänge. Sie bleiben immer zugezogen – und machen den grauen Tag zur strahlenden Nacht.

Foto: Michael Hughes
Herta legt eine Pause ein und setzt sich auf ihren Platz mit dem Sektglas. Aus den Lautsprechern tönt »I can’t live without you«, doch Inge, die »kleine Tanzmaus« tanzt auch alleine weiter. Inge und Herta tanzen oft zusammen, »im Keese sieht man das ja nicht so gern, wenn Frauen zusammen tanzen«, aber hier in Kreuzberg ist das natürlich normal. Die beiden passen gut zusammen, »die Inge ist genauso kleen wie ich«, sagt Herta. Und niemand tanzt den »English Waltz« so gut wie die beiden. »Außerdem wollen die Männer ja sowieso immer nur das eine!«

Tatsächlich sitzen einige graue Wölfe im Publikum und betrachten die Frauen auf der Tanzfläche mit hungrigen, sentimentalen Blicken. Obwohl kaum eine von ihnen die Mitte des Lebens nicht längst überschritten hätte. Es ist jetzt fünf, und unter der Glitzerkugel ist nur noch wenig Platz. Günter, der Diskjockey, zieht einen Joker nach dem anderen aus dem Ärmel. Seit 30 Jahren schon. Früher hat er im Palais Madame in der Nürnberger Straße aufgelegt, aber auch im legendären Tanzpalast über der Skihütte. Er weiß, was einsame Herzen brauchen. Und daß auch Männer einsame Herzen haben. Männer, die schon seit Jahren in Jackett und Rollkragenpullover, mit gestriegeltem Schnauzer und gefärbten Haaren ernst zur Tanzfläche blicken. »Seemann, laß das Weinen …«, singt der Lautsprecher. Es sind viele fremde Männer hier, Portugiesen, Türken, Araber, Italiener… Sie kennen das Lied, sie kennen jedes Wort. »… Deine Heimat ist das Meer, Deine Sehnsucht ist die Ferne …« – Manchmal dreht Günter den Ton aus, und dann hört man, wie sie leise mitsingen können beim Tanztee im Tanzpalast: »… Deine Freunde sind die Sterne, über Rio und Shanghai, über Bari und Hawaii …« Vielleicht ist keiner dieser Männer jemals zur See gefahren. Aber es gibt Momente, da fühlt sich jeder Mann so wie ein Mann auf See.

Doch nicht nur Einsame kommen. Es gibt auch Paare, die regelmäßig zum Tanz in die Obentrautstraße kommen. Es gibt sogar Paare, die sich hier erst kennengelernt haben. So wie das kleine Pärchen, »beide unter 1,60«, das vorhatte, seine Hochzeit im Tanzpalast zu feiern. Und das dann in den Urlaub fuhr. Vor einem halben Jahr. Seitdem hat man nichts mehr von ihnen gehört. Das kommt immer wieder vor, daß jemand plötzlich nicht mehr da ist. Daß sich die Spur verliert. Aber daran denken sie nicht, wenn sie auf die Tanzfläche steigen. Dann denken sie an die Geburtstage, die sie im Tanzpalast feiern werden. An Silvester, Fasching und Weihnachten. Wenn der Wirt seinen Stammgästen ein Büfett spendiert. »Wir sind so was wie eine große Familie hier«, sagt er, während der Lautsprecher lockt: »Komm tanz mit mir, denn Walzer sterben nie«. Und dann legt der Diskjockey einen echten Wiener Walzer auf. Alles unter der Diskokugel dreht sich jetzt im Kreis. Auch die Seemänner, die alle schon viel zu lange in Berlin sind. Und die Frauen in den goldenen Kleidern, den weißen Blusen. Und die Pärchen. Und Inge und Herta. Sechs Uhr.

Der Palast ist voll. Auf den Bänken schunkelt man Arm in Arm. Inge sagt, daß sie sich schon am Samstag auf den Sonntag freut. Sie hat rote Locken, trägt ein weißes T-Shirt mit tiefem Ausschnitt und einem schwarzen Gürtel auf der Taille. Sie redet viel und aufgeregt, als wäre sie sechzehn und nicht sechzig. Herta ist ein bißchen stiller. Sie ist ja auch schon älter. Sie hat rosafarbene Fingernägel, türkis-geschminkte Augen und feine, aristokratische Gesichtszüge. Sie hat ein Leben lang auf dem Friedhof gearbeitet, »war immer in Bewegung«. Sie wohnt in Wilmersdorf, aber sie läßt keinen Mittwoch und keinen Sonntag in Kreuzberg aus. »Meine Freunde sind ja alle schon tot. Und wenn noch welche leben, dann laufen sie mit nem Rollator durch die Gegend und sagen immer: Herta, jetzt renn doch nicht so!« Aber die Inge, die ist schnell. Die »ist der Musik immer nen Takt voraus«. Aber Inge ist ja auch noch jünger. Herta kennt sie noch, die alten Tanzpaläste, sie hat schon als kleines Mädchen immer viel getanzt, da hatte sie »noch nicht mal Tanzschuhe an den Füßen. Ich kann einfach nicht still sitzen. Sitzen, das ist nichts für mich.«

Foto: Michael Hughes
Inge und Herta. Foto: Michael Hughes

Der DJ ruft. »Jetzt geht’s loo-oos, jetzt geht’s loo-oos!« Schon ist Herta wieder auf den Beinen. Ein bißchen ist es jetzt wie auf dem Rummel im Tanzpalast. Auch die Musik ist so wie bei den Autoskootern. Es gibt Rock’n’Roll, deutsche Schlager, Walzer, Tango, Sirtaki, sogar Technoverschnitte. Herta stört das nicht. Sie hat mit ihren 93 Jahren schon zu so viel verschiedener Musik getanzt! Da wird sie doch jetzt nicht zickig werden. So kurz vor dem Hundertsten. Den wird sie im Palast feiern. Und das wird ein Fest!

Doch auch heute ist die Stimmung in der alten Polsterei festlich. Tee trinkt beim Tanztee keiner mehr, auch die Sonntagstorte in der Vitrine wird kaum beachtet. Schließlich ist man im Tanzpalast und nicht im Seniorenheim, wo drei einsame Herzen beim geselligen Beisammensein Mensch-Ärgere-Dich-Nicht spielen, Kekse essen und Kaffee trinken. Im Tanzpalast, da tobt das Leben. Im Tanzpalast hat Ronny, der Zapfer, jetzt alle Hände voll zu tun. Ronny hat breite Schultern, redet nicht viel und signalisiert mit jedem Blick, daß er jeden Seemann mit zwei Fingerspitzen ins Abseits befördern könnte. Falls es einmal Streit geben sollte wegen einer Seemannsbraut.

Aber sonntags ist in der Regel alles ruhig, sagt Danny, einer von fünf starken Männern, die an den anderen Tagen der Woche für Ordnung sorgen. »Sonntags sind wir nur zu zweit, Ronny und ich.« Da nippen manche Damen stundenlang an einem Glas Sekt, und auch die Männer versuchen, aufrechten Ganges auf die Tanzfläche zu kommen. Der Tanzpalast hat Stil. Daß jemand über den Durst trinkt, kommt dennoch manchmal vor. Aber die »reifere Jugend« behält die Contenance. Wutausbrüche, Geschrei, Gezeter wie bei der Jugend unter 27 gibt es nicht. Mag sein, daß manchmal ein paar stille Tränen vergossen werden. So wie es die Dame tat, die eines abends auf den kleinen Stuhl vor der Garderobe sank. Sie war untröstlich, ein kleines Knochenbündel Elend. Schon seit einer Viertelstunde suchte die Freundin oben im Saal nach dem Gebiß, das die Unglückliche während des wilden Tanzens unter der Diskokugel verloren haben mußte.


zurück zum Inhalt
© Außenseiter-Verlag 2024, Berlin-Kreuzberg