Kreuzberger Chronik
September 2007 - Ausgabe 90

Herr D.

Herr D. und die Gebrüder Grimm


linie

von Hans W. Korfmann

1pixgif
Die Sonne schien, Herr D. beschloß, die einmalige Gelegenheit zu einem besinnlichen Spaziergang zu nutzen. Doch die Stadt war voll von lärmenden Kindern auf Fahrrädern, Rollern, Rollschuhen und Inlineskatern. Herr D. schlug die Richtung zum St. Matthäus Friedhof bei den Yorckbrücken ein, wo er in der efeuumrankten Abgeschiedenheit zu philosophieren und den Altgermanisten Grimm einen Besuch abzustatten gedachte. Doch kaum hatte er die Pforte ins Reich der Stille durchschritten, nahm eine Sängerin das Mikrophon an die ausladende Brust und warnte alle Lebenden, nur nicht aus Liebe zu weinen.

Herr D. fand das befremdlich: Gleich neben den Gräbern, auf dem Hauptweg und neben dem Wasserbecken, hatte man eine Bühne aufgebaut. Frauen tanzten in kurzen Kleidern, Männer aßen Bratwurst und tranken Bier. Kinder spielten zwischen den Gräbern. Ein Verein zur Erhaltung und Pflege des denkmalgeschützten Friedhofes hatte das Fest organisiert. Herr D. überlegte gerade, ob seine Gebrüder Grimm die Sängerin nun als Ruhestörung oder als angenehme Abwechslung in ihrem womöglich tristen Alltag empfinden würden, da klopfte ihm jemand auf die Schulter.
Zuerst dachte er, das Gesicht mit den langen weißen Haaren gehöre einem der geweckten Brüder, doch es war Hans Hartmann, der ehemalige Bassist von Guru Guru. Herr D. kannte ihn von der Käsetheke in der Markthalle. »Ist das nun Ruhestörung oder nicht?«, fragte Herr D. »Ich finde, die spielen ganz gut!«, antwortete der Musiker. »Ich meine wegen der Friedhofsruhe!« – »Ach, die lieben Musik, da bin ich sicher!«, grinste Hartmann. »Worüber die sich ärgern, das sind die kleinen Traktoren, mit denen die Eineurojobber über den Acker knattern.«

Herr D. erinnerte sich daran, wie er Ludwig Tieck auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof an der Bergmannstraße besuchen wollte. Auch da waren die stillen Gärtner mit dem Spaten durch effiziente Baggerfahrer ersetzt worden. Daß die Verabschiedung der Handarbeit Qualitätseinbußen mit sich brachte, bewies der halbe Arm neben dem Komposthaufen. Eine ellenlange Elle. »Die liegt schon seit zwei Wochen hier!«, sagte die Frau mit der grünen Gießkanne. »Ich weiß auch nicht, wem die gehört!«

»Einer meiner Musiker«, erzählte Hartmann, »war kürzlich bei einem Begräbnis in der Bergmannstraße. Obwohl die Verwandtschaft eigentlich nur aus Muslimen bestand, hatten sie sich für den christlichen Gottesacker entschieden. Als die Trauergesellschaft in die Bergmannstraße kam, sahen sie, wie der Bagger gerade hinter den Büschen verschwand. Und auf dem Erdhaufen neben dem Grab sollen Knochensplitter gelegen haben.« Herr D. gab daraufhin die Anekdote von seiner Nachbarin zum besten, die zum Begräbnis ihrer Schwägerin gekommen war und erstaunt feststellen mußte, daß auf dem Grabstein nicht der Name der Verstorbenen, sondern ihr eigener stand. »Die wäre vor Schreck fast gestorben!«

Herr D. und Herr Hartmann setzten sich zu den alten Damen, die eigentlich die Gräber ihrer Männer hatten begießen wollen und nun im Garten des Friedhofscafés in der Abendsonne saßen, Kaffee tranken und MarleneDietrichLieder hörten. Herr D. und der Mann von Guru Guru tranken Schorlen und erzählten sich noch andere kleine Friedhofsgeschichten. Als die Sängerin ein Lied über den Tod anstimmte und die Organisatoren des Gründungsfestes von Efeu-E.V. mit dem Einpacken begannen, waren sich Herr D. und Herr Hartmann einig: Es war schön hier, und eines fernen Tages würden sie sich hier auf dem St. Matthäus Friedhof wiedersehen.

zurück zum Inhalt
© Außenseiter-Verlag 2024, Berlin-Kreuzberg