Kreuzberger Chronik
Oktober 2006 - Ausgabe 81

Die Geschäfte

Die süßen Früchte des Herrn Naderloo


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von Hans W. Korfmann

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Die Früchte von Herrn Naderloo sind nicht so frisch wie die vom Gemüsestand schräg gegenüber. Sie sehen ziemlich vertrocknet aus. Egal, ob es sich um Bananen, Aprikosen, Melonen, Blaubeeren, Erdbeeren, Berberitzen oder die seltene Drachenfrucht Pitahaya aus der Familie der Cactaceae handelt, die aus dem fernen Nikaragua in den Hamburger Hafen verschifft wurde. Sie wiegen fast nichts mehr, die Trockenfrüchte in den Vitrinen des Herrn Naderloo.

»Ich hätte gern Preiselbeeren«, sagt eine junge Frau. »Darfs ein bißchen mehr sein? Zwei, drei Kilo vielleicht?« schmunzelt Herr Naderloo. Die Frau lacht. Herr Naderloo ist der charmanteste Verkäufer in der Halle, und es liegt womöglich nicht allein am »größeren Gesundheitsbewußtsein der Frauen«, daß sie so zahlreich bei ihm einkaufen. Auch wenn es manchmal nur 100 Gramm getrocknete Sauerkirschen oder 50 Gramm vom Ingwer sind, von dem er immer eine Kostprobe bereithält. »Den Ingwer hab ich hier schon bekannt gemacht. Ich möchte ja, daß meine Stammkunden lange leben. Und es gibt eben nichts Gesünderes als Ingwer!«

»Zweihundert Gramm Feigen bitte!«, sagt die nächste, deren Haare so glänzend schwarz und deren Augen so wunderbar ndelförmig geschwungen sind wie sonst nur Augen aus 1001 Nacht. Die Schönheit der Kundin entgeht dem Händler der Trockenfrüchte nicht, weshalb er sich ein kleines und gut getarntes Kompliment erlaubt: »Aber von Feigen bekommen Sie doch große Ohren!« Aber nicht nur zu den Frauen ist der Markthallenhändler freundlich. »Wieviel darfs sein? Ein Kilo?«  »Ich bin ein armer Rentner!«, sagt der Herr. »Was glauben Sie, was ich in zwanzig Jahren bin?«, sagt Herr Naderloo. Wenig später weiß er, daß auch dieser Herr einmal mit Obst handelte. Frischobst allerdings. Das Geschäft ging gut: »1.500 Mark hab ich allein an Rente gezahlt, jeden Monat!«  »Ja, das waren eben die fetten Jahre. Da hatten die Studenten sogar noch Zeit, über den Kommunismus nachzudenken!«

Sagt der ehemalige Geographiestudent Mohsen Naderloo. Auch wenn er von diesen fetten Jahren in Deutschland nicht viel mitbekommen hat. Vom Kommunismus hat er trotzdem einiges mitbekommen. Auch wenn er damals in Teheran eigentlich auf jeder Demonstration mitlief, egal, ob es nun die Linken waren oder die Moslems, die gegen den Schah protestierten. Er war dagegen. Schon als Schüler ertrug er die Enge der Gedankenfreiheit nicht, diesen Schulhof, wo sie morgens vor dem Unterricht antreten und die Schahhymne singen mußten. Als er und einige Freunde sich weigerten, befahl der Direktor den Widerspenstigen, nach der Hymne noch einen Moment auf dem Hof zu bleiben. Dann kamen Männer mit langen Stöcken und begannen, die Schüler zu schlagen. »Dabei waren wir Kinder, vielleicht 13 Jahre alt!«

Gemütlich war es in Mohsen Naderloos Kindheit nie. Nie war er wirklich irgendwo zuhause. Zu früh starb die Mutter, monatelang sprach der Junge mit niemandem mehr. Dann wanderte er von Verwandten zu Verwandten »durch alle Schichten«, wohnte ebenso im Norden Teherans, wo die Reichen wohnten, wie im armen Süden. Am nächsten stand ihm noch die Großmutter, aber einen wirklichen Mittelpunkt gab es nicht. Es war ein trauriges Leben. Bis der Umsturz kam. Plötzlich, für eineinhalb Jahre, etwa bis zum Sommer 1981 »war Teheran ein Paradies. Es war, als hätte sich der Himmel über uns geöffnet. Wir waren frei! Ich werde das nie vergessen!«

Doch dann kamen religiöse Fanatiker. Mohsen Naderloo erinnert sich, wie sich alles wieder verfinsterte. Wie er eines Tages einer Frau gegenüberstand, die aus der Stirn blutete. Ein Mann hatte ihr das Kopftuch, unter dem einige Haarsträhnen hervorguckten, tiefer in die Stirn gezogen und eine Reißzwecke hindurchgedrückt. Immer öfter fuhren jetzt radikale Moslems in Scharen mit Motorrädern durch die Stadt, um »aufzuräumen. Teheran roch nach Tod«, aber Mohsen war Pazifist. Er wollte jetzt endlich fort.

1984 tauchten in dem Schneiderladen, in dem er nach dem Abitur arbeitete, Schmuggler auf. Sie schmuggelten Menschen über die Grenze. Mohsen kratzte alle Ersparnisse zusammen und lieh sich Geld von Verwandten. Mehrere Tage waren sie unterwegs, zu Fuß, mit den Pferden, sie konnten am Ende nicht mehr sitzen und nicht mehr laufen. Mohsen Naderloo erinnert sich noch gut, wie er eines Morgens inmitten einer blühenden Wiese aufwachte. »Ich dachte, das ist das Paradies. Dabei war es meine Heimat, die ich gerade verlassen wollte!« Er erinnert sich auch noch gut an den letzten Blick auf die Stadt Salmas, es war eine finstere Nacht, und tief unten blinkten die Lichter. Lichter der Heimat. Er ist nie wieder zurückgekehrt seitdem. Schon lange wartet er auf seinen iranischen Ausweis, damit er den Vater noch einmal besuchen kann.

In der Markthalle Foto: Michael Hughes
Sie waren zu neunt, als sie über die Berge kamen, dann verloren sie sich im Untergrund Istanbuls. Sie drückten sich in finsteren Hotels herum, in denen die sogenannten »Botschafter« verkehrten: Schlepper, die sie weiter nach Norden brachten. Mohsen Naderloo wollte nach Kanada, doch dafür reichte sein Geld nicht. Allein für den falschen Ausweis hatte er 1.000 Dollar bezahlen müssen. Der hatte einst einer Eva gehört, aber die Grenzposten interessierten sich nicht für europäische Namen. So landete Mohsen Naderloo in Berlin-Schönefeld. Aber er wollte nicht in der DDR bleiben, er wollte mindestens nach Skandinavien, ans nördlichste Ende Europas, »so weit weg wie möglich«. Er wollte zum Hafen, nach Rostock. Doch der Taxifahrer brachte den jungen Iraner nicht zum Ostbahnhof, sondern nur zur Friedrichstraße. Und die S-Bahn brachte ihn nicht nach Rostock, sondern nach Westberlin.

Auch in Deutschland war der junge Iraner nicht zuhause. Die Sprache war ihm fremd, er wußte nicht, wohin. Also schickte man ihn ins Flüchtlingslager nach Augsburg, wo er Deutsch lernte. Er verbrachte Jahre in Nürnberg, Monate in Kassel und Frankfurt. Und er begann in Marburg tatsächlich mit dem Studium, kellnerte, arbeitete im Pflegedienst, schlug sich durch, bis er irgendwann dann doch wieder in Berlin landete, wo eine Griechin namens Philomeni Trockenfrüchte und Nüsse auf Wochenmärkten verkaufte.

»Probieren Sie doch die gefüllten Datteln einmal!«, sagt Herr Naderloo und lächelt. Es ist ein ruhiges, ungetrübtes Lächeln. Ein Lächeln, in dem keine Spur mehr zu sehen ist von dem weiten Weg über die Berge, dem beschwerlichen Weg nach Norden. »Ich mag keine Datteln!«, sagt die Frau. »Na«, sagt da Herr Naderloo und lächelt jetzt ein bißchen weniger als sonst, »dann müssen Sie die Maulbeeren nehmen. Wissen Sie, wie man bei uns sagt: Wer traurig ist, muß Maulbeeren essen. Damit das Leben wieder süßer schmeckt!«


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