Kreuzberger Chronik
Mai 2006 - Ausgabe 77

Kreuzberger
Martina Nitz: Ich bin Löwe in Wirklichkeit




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von Waltraud Schwab

Titelfoto: Dieter Peters

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Eidechsengleich gleitet Martina Nitz aus ihrem Rollstuhl. Sie streckt die Füße aus, windet sich und rutscht langsam vom Sitz auf den Boden. Gehen kann sie nicht, wohl aber robben. »Ich mag Tiere«, sagt sie. Wenn sie welche malt  Elefantenmolche, Nashornkrokodile, Tigersalamander etwa , sind deren Füße zu winzig, die Tiere zu tragen. Auf dem Boden liegend aber, wird die junge Frau zu einer Tänzerin.

Martina Nitz ist Schauspielerin und spastisch gelähmt. »Alle Gliedmaßen, Hände, Arme, Beine, sind betroffen. Die Sprache auch. Hinzu kommt eine starke Verlangsamung beim Lernen. Sauerstoffmangel bei der Geburt. Es ist eben zu lange gegangen.« Die 37-jährige zählt ihre Behinderungen auf, als wäre es ein auswendiggelernter Text, als sei eine andere gemeint, gar nicht sie. Dann aber ist sie es doch plötzlich selbst: »Ich wäre so gern Stewardeß. Weil ich nicht mehr festsitzen will. Ich möchte fliegen, so leicht in der Luft. Aber dann kommt man auch wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.«

Auf dem Boden der Tatsachen ist es nun mal so: Sie ist eine Stewardeß, sie ist Schauspielerin. Wovon andere träumen, das ist für sie nur zweite Wahl. Eine Alternative zum Verpacken von Schrauben oder Montieren von Feuerzeugen in einer Behindertenwerkstatt. Telefondienst hat sie auch schon gemacht. Nie mehr will sie das tun. »Der Begriff Schauspielerin hebt mich. Und dann falle ich wieder. Auf der Bühne kann man die Gefühle zeigen, aber in der Wirklichkeit ist es schwerer.«

Martina Nitz und Anja Gürke in "Zimmer 2", München, 1997
»Wirklichkeit« ist ein Lieblingswort von Nitz. Sie hat sie sich erkämpft. Früher, als sie Kind war, hat sie jeden Zentimeter Beweglichkeit verteidigt. »Mit sieben war ich noch so, daß ich am Geländer allein die Treppe hochgekommen bin. Als Kind hatte ich auch eine Reittherapie. Das war toll. Aber das durfte ich nicht mehr, weil die Hüfte Theater gemacht hat. Huch  die Hüfte hat Theater gemacht.«

Nitz gehört zum Ensemble des Berliner Theaters Thikwa. Seit 1990 besteht es, und sie ist von Anfang an dabei. »Bin ein alter Hase. Bin schon viel mit dem Theater rumgefahren. War in München, in Hellerau, in Wismar, in der Schweiz. Vor kurzem in Moskau. Da war viel los. Ich war zu einem Theaterfestival eingeladen und hab in einem Hotel gewohnt, das nicht auf den Rollstuhl abgestimmt war. Ich kam in der Dusche nicht klar. Überall brauchte ich Hilfe.« Dabei sehnt sich Nitz so sehr nach Selbständigkeit. Die Theatergründerinnen wissen um Nitz Traum, aus den Fesseln befreit zu werden. Auf der Bühne durfte sie schon fliegen. Und tanzen. Und sich aus dem Rollstuhl gleiten lassen. In Slow Motion. Auf der Bühne ist alles möglich. Im wirklichen Leben dagegen kann es sein, daß es mitten im besten Moment an der Tür klingelt und der Fahrdienst, der Telebus, der Abholer kommt. Dann muß ein Gedanke unterbrochen, die Gabel auf den Teller geworfen, der Tee noch heiß stehengelassen werden. »Bei Thikwa kann ich meine Wirklichkeit vergessen. Aber es ist nicht so einfach.«

Thikwa  der Name kommt aus dem Hebräischen und bedeutet »Hoffnung«  ist das einzige Theater von Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung, bei dem die Behinderten richtig angestellt sind. Täglich kommen sie, erarbeiten Stücke, proben, steuern Texte bei, üben, werden im Sprechen geschult, spielen durch, entwickeln die Musik, führen auf. Eigentlich ist es mit einer klassischen Behindertenwerkstatt vergleichbar, mit einem Unterschied: Der Mehrwert, den die Ensemble-Mitglieder schaffen, heißt Kunst.

Die Rollen, die das Thikwa-Ensemble erarbeitet, sind mehrschichtig. Die Behinderung, die einerseits als Störfaktor in einer perfekten Gesellschaft daherkommt und das Publikum immer in den Zwiespalt bringt, sie wegzudenken oder ihr nachzuspüren, stellt andererseits die Schwächen jedes gespielten Charakters bloß: Ein Macho ist hier immer auch ein Loser. Ein Kaspar Hauser ist nicht nur historisch, ihn gibt es wirklich. Und eine Träumerin stößt ständig an die echten Grenzen.

Die echten Grenzen  Martina Nitz kennt sich mit ihnen aus. »Ich fühle mich in mir eingeengt. Wie in einem Käfig. Ich kriege nicht so richtig Luft. Jetzt mal ganz ehrlich, ich bin den ganzen Tag in sitzender Haltung und ich bin eingeengt. Gut, ich kann aussteigen und mich auf dem Boden wälzen, aber dann sehe ich aus wie ein Papagei. Das will ich nicht. Es erinnert mich an damals.« Sie meint ihre früheren Kämpfe mit der Mutter, als sie noch zu Hause wohnte. »Meine Mutter war 19, als sie mich bekam. Wir haben viel gestritten. Da hab ich ausgesehen wie ein Papagei. Und sie hat mich gehauen, ins Zimmer eingeschlossen, weil meine Eltern mit mir nicht einverstanden waren. Ich bin damit nicht fertig geworden.«

Später hat das Jugendamt Martina Nitz im Heim untergebracht. Berlin kennt sie vor allem aus der Perspektive von Betreuungseinrichtungen, Behindertenwohngemeinschaften, Telebussen und Krankenhäusern. »Überall gibt es Bevormundung, man wird behandelt wie ne Kleine.« Vielleicht sieht sie deshalb auch so jung aus, fast wie ein Teenager. »Alle schätzen mich auf zwanzig.«

Vor zwei Jahren hatte Nitz die Nase voll davon. Sie hat durchgesetzt, daß sie allein wohnen kann, auch wenn jeder Handgriff, den sie tut, Disziplin und Kraft und Zeit kostet. Eine wahnsinnige Anstrengung ist es für sie, ihrem Meerschweinchen frisches Wasser zu geben. »Und dann geht der Wasserhahn in der Küche schwer auf.« An den Backofen kommt sie auch nicht. Der Weg vom Zimmer zum Bad ist ein Hürdenlauf: Robben, Hochziehen, Rollen, Runtergleiten, Robben. Und als sie ihr Malbuch aus dem Regal zieht, fällt es ihr aus der Hand. Mühsam hebt
Foto: Dieter Peters
Foto: Dieter Peters
sie es auf. Zufällig ist die Seite mit dem Bild vom schwarzen Grabstein ihrer vor einem Jahr verstorbenen Mutter aufgeschlagen. Nitz hat ein grünes Auge darauf gemalt. »Zur Erinnerung an sie, weil sie grüne Augen hatte.«

Zwar ist der Alltag der behinderten Schauspielerin beschwerlich, doch sie ist stolz auf das, was sie schafft. »Ich mochte die Überbetreuung in den Heimen nicht mehr. Und alle sagten: :Du kannst das doch nicht. Du kannst doch nicht alles. Ich kann auch heute nicht alles, aber ich habe es geschafft.« Bald zieht sie um. Von Charlottenburg in den Prenzlauer Berg. Sie hofft, daß es ihr dort sogar gelingen wird, manchmal ohne Hilfe aus dem Haus zu gehen, weil »das Alleinsein sehr einsam ist«.

Thikwa ist das Korsett von Nitz. »Es gibt Halt, aber es engt auch ein. Deshalb ist es ein Korsett.« Ihre Freunde kämen zu kurz. »Die fragen: :Wann hast du endlich Zeit? Dann sag ich: :Das weiß ich auch nicht.« Alle ihre Freunde seien behindert. Mit Nichtbehinderten sei das so eine Sache. »Die gucken uns immer an und wissen nicht, wie sie mit uns umgehen sollen. Und dann entwickle ich auch manchmal Gefühle. Wie soll ich sagen, so Nähe, so Zuneigung. Aber dann bin ich wieder der Papagei.«

Liebesbeziehungen zu Männern  das hat sie auch ausprobiert. Weil die sie nur ins Bett zerren wollten, habe sie davon wieder Abstand genommen. Das ging ihr zu schnell. Einmal aber hatte sie zweieinhalb Jahre lang eine Freundin. Die war auch im Rollstuhl. »Sie hat Schluß gemacht. Es hat ein Jahr gedauert, bis ich das akzeptieren konnte. Aber mit Akzeptieren kenn ich mich aus. Ich will Stewardeß sein, aber ich soll akzeptieren, daß das nicht geht.«

Nitz hat sechs Geschwister. Nur zu einem der Brüder und vor allem zur Großmutter hat sie heute noch Kontakt. Zu den Aufführungen kommt die Oma nicht mehr. Sie sagt, sie verstünde die Stücke nicht. »Und jetzt mal ehrlich, ich versteh sie auch manchmal nicht. Ich will mal was Lustiges. Nicht Orpheus und Eurydike, Kaspar Hauser oder Don Giovanni.« Von Melancholie und Sehnsucht und Geschichten, die im Nirgendwo enden, hat sie selber genug. »Ich hab noch Kraft für das Theater Thikwa, aber ich möchte ein lustiges Stück, weil das Leben traurig ist. Einfach mal was zum Lachen haben. Und etwas, wo man unsere Sprache mag und wo wir mal von unserem Leben erzählen.«

Etwas, wo man unsere Sprache mag  in diesem Satz der Schauspielerin steckt eine Aufforderung, die nicht nur das Theater meint. Weil sie verstanden und akzeptiert werden will, wird sie weiterkämpfen. »Ich bin heute 37 und ich bin auf der Welt und ich bin Löwe in Wirklichkeit und ich hab Kraft und ich geb nicht auf.«




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