Kreuzberger Chronik
Februar 2006 - Ausgabe 74

Kreuzberger
Anna Sigora

Es gibt Herren, die flüchten aus der Ehe ins Hobbyzimmer. Das brauche ich nicht.


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Michael Hughes

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Wenn es klingelt und die Zahnärztin das Telefon in die Hand nimmt, dann spricht sie nicht viel. Sie nennt nur kurz ihren Namen, »Sigora«, wobei das warme »R« etwas Donnerndes und Drohendes bekommt: Sigorrra! Das wirkt hart, und wenn Sie daran zurückdenkt, was für gestandene Männer sie mit dieser kurzen Ansprache schon zum Stottern brachte, dann muß sie lachen. Sogar der Bestattungsunternehmer, mit dem sie schon einige Male gesprochen hatte, war über die kräftige Intonation derart irritiert, daß er Frau Sigora für Herrn Sigora hielt und stotternd nach der Gemahlin fragte. Über solche Anekdoten kann sie sich köstlich amüsieren. Auch jetzt sitzt sie da, und es rollen ihr wieder einmal die Tränen über die Backen vor Lachen. Sie erinnert sich an Gaetano Scognamiglio, erzählt, wie er sein Lokal in der Kurfürstenstraße eröffnete, das Mistral. »Am Abend vor der Eröffnung rief er mich an und fragte, ob ich ihm nicht behilflich sein könne und ein bißchen Aufräumen helfen. Es war nichts fertig, nicht mal Tischdecken waren da, dabei hatte jeder Tisch eine andere Farbe. Der Mann war völlig überfordert.« Frau Sigora muß sich die Tränen von der Wange wischen und nach Luft schnappen, um zu erzählen, wie der Wirt mit dem Handtuch über der Schulter an den Tisch seiner Gäste trat und sich über deren Tischsitten beschwerte. »Das Lokal war eine einzige Katastrophe. Andere freuen sich, daß sie Gäste haben, aber Gaetano war jedes Mal froh, wenn sie wieder draußen waren.« Frau Sigora kannte den Franzosen nicht gut, aber lange. Sie hatte sich um seine Zähne gekümmert, seit er das erste Mal bei ihr in der Praxis am Boddinplatz erschien und sagte: »Madame, machen Sie bitte meine Zähne!« Jetzt kümmerte sie sich um seine Beerdigung. Sie hat ihn gerade noch rechtzeitig aus dem Kühlhaus in Pankow geholt. »Da haben Sie aber Glück, daß er noch da ist«, sagte der Bestattungsunternehmer zu Frau Sigora, »eigentlich hätte der schon längst unter der Erde sein müssen. Aber die Papiere aus Frankreich dauern so lange.« »Kann ich die Urne haben?«, fragte Frau Sigora. »Die Urne?«, fragte erstaunt der Bestatter. »Ja, ich möchte ihn begraben.« »OK, aber das kostet Geld!«, sagte der Unternehmer. »Ich bezahle!«, sagte Frau Sigora. Und kümmerte sich um ein Begräbnis auf dem Waldfriedhof. »Da, wo die ganzen Prominenten liegen!« Sie konnte den Gedanken irgendwie nicht ertragen, daß ihr Franzose in einem namenlosen Armengrab verschwinden sollte. Sie wollte, daß man sich noch einmal erinnert an diesen Mann, der sich mit seiner ewigen schlechten Laune und seinen Flüchen Feinde, aber auch Freunde gemacht hatte. An diesen ruhelosen Geist im Kopierladen im Souterrain der Bergmannstraße. »Jetzt hat er für die nächsten 20 Jahre endlich einmal seine Ruhe.« Sie mochte ihn, vielleicht, weil er immer »Madame« zu ihr gesagt hatte, 35 Jahre lang. »Madame, meine französische Eleganz verbietet mir, Ihnen das »Du« anzubieten«, hatte er gesagt. Doch es gab etwas, das den Copyshopbesitzer und die Zahnärztin miteinander verband wie gute Freunde: die Fremde, das Exil. »Es reichte ihm ja, wenn man kein Deutscher war, und schon war man ihm sympathisch.« Andererseits war es genau dieses Leben in der Fremde, das sie auch deutlich voneinander unterschied. Denn während der eine im Souterrain um jeden Pfennig kämpfte, arbeitete die andere am Kudamm. Während der Franzose immer vom Unglück in diesem unglückseligen Land sprach, spricht Anna Sigora immer nur vom Glück. »Ich hatte sieben Jahre lang Pech«, sagt sie. Das war in Ungarn. Denn sieben Jahre lang hatte sie auf ihren Studienplatz warten müssen, weil die Kommunisten etwas dagegen hatten, daß auch die Tochter der angesehenen Medi


Foto: Michael Hughes
zinerfamilie mit ihrer dreistöckigen Villa am Donaudelta Medizinerin werden wollte. Sie haben sieben Mal abgelehnt  trotz hervorragender Zeugnisse. Als sie endlich ihr Examen gemacht hatte, wollte man sie an die russische Grenze »strafversetzen«. Da flüchtete sie nach Deutschland. Schon ihre Großeltern waren 1957 von den Kommunisten vertrieben worden, die Familie des Georg Merkel, eines für seine Kirchendächer in ganz Budapest bekannten Zimmermanns aus dem »Schwabenviertel«, war eine der ersten, die gehen mußte.

Anna Sigora erinnert sich noch, wie sie als kleines Mädchen in einer amerikanischen Kriegsbaracke Weihnachten bei ihren Großeltern in Deutschland feierte. Für die war der Neuanfang in Schwaben nicht leicht gewesen, »doch ich selbst hatte nur noch Glück.« Kaum war Anna Sigora in Nürnberg bei Verwandten angekommen, durchblätterte sie das Telefonbuch nach einem Bekannten in Berlin, fand auch gleich die Nummer, die sie suchte. Der Mann war gerade dabei, das Haus zu verlassen und für einige Wochen zu verreisen, aber er sagte: »Komm sofort nach Berlin. Hier gibt es Arbeit, und Berlin ist eine weltoffene Stadt. Ich hinterlasse dir einen Schlüssel, und dann wartest du, bis ich zurückkomme.« 1978 war das, und Anna Sigora war fest entschlossen, in Deutschland zu bleiben. Schon 1967, als sie, gerade 19jährig, die Großeltern in der neuen Heimat besucht hatte, war sie »anfällig geworden für eine gewisse Lebensqualität«, die drei Autos des befreundeten Arztsohnes waren ihr nicht unangenehm aufgefallen.

Selbst die zwei Wochen im Lager für Spätheimkehrer in Marienfelde waren für Anna Sigora »ein einziges Glück. Ich kam rein und die fragten sofort: Womit können Sie beweisen, daß Sie Deutsche sind? Ich sagte, daß ich schon 1957 und 1967 meine Großeltern in Hasmersheim besucht habe, und da riefen die sofort auf dem Rathaus an und fanden tatsächlich noch die Quittungen von dem Begrüßungsgeld, das meine Großeltern jedesmal bekamen, wenn Verwandtschaft aus Ungarn eintraf. In den zwei Wochen im Lager erledigten die alle meine Papiere, tuto completo, und sechs Monate später hatte ich einen deutschen Paß.« Im selben Winter noch begann sie in einer Zahnarztpraxis in der Boddinstraße zu arbeiten, bis ihr eines Tages ein Mann am Bahnhof Zoo auffiel, der eine dicke Backe hatte und die mit dem Mantelkragen wärmte. »Nicht wärmen, kühlen müssen Sie den Zahn!«, sagte die Ärztin und kam mit dem Mann ins Gespräch. Vier Tage später rief dessen Zahnarzt in der Praxis in Neukölln an. Es war ein Ungar, der eine gutgehende Praxis am Kudamm hatte und einen Nachfolger suchte. Schon wenig später eröffnete Anna Sigora ihre eigene Praxis und blieb am Kudamm, bis nach dem Fall der Mauer die Mieten in den Himmel wuchsen und Minister Seehofer mit den Reformen den Ärzten das Leben schwerer machte.

Wahrscheinlich hat sie der Praxis am Kudamm keine Träne nachgeweint. Anders als Gaetano Scognamiglio seinerzeit seinem Restaurant. Sie hat eben diese fröhliche Natur. Sie kann so strahlend, so breit lachen, daß ihre Nasenspitze zu glänzen beginnt. Sie sagt: »Zahnarzt ist einfach ein herrlicher Beruf. Man hört so viele Geschichten. Da kommt einer aus dem Urlaub zurück und hat seine Prothese verloren. Ist das nicht köstlich?« Schon wieder beginnt sie zu lachen. »Und dann können wir Zahnärzte ja auch meistens gleich helfen. Wir wissen sofort, was los ist. Und umbringen können wir unsere Patienten in der Regel auch nicht.« Das erspart eine Menge Scherereien. Selbst den unpoetischen Blick in den Abgrund faulender Gebisse verteidigt die Ärztin vehement: »Stellen Sie sich vor, Sie wären Urologe!«, sagt Anna Sigora hat dabei einen Gesichtsausdruck, der deutlich macht, wie sehr schon die Vorstellung ihre Vorstellungskraft überschreitet. Aber Zähne aufbohren, das könnte sie lebenslänglich, und sie freut sich noch immer über jeden Patienten, der anruft. Egal, wie spät es ist. Egal, wie sich das am Telefon auch anhört, wenn sie »Sigorrra« sagt.

»Mein Beruf ist meine Berufung, meine Leidenschaft, mein Hobby. Es gibt Herren, die flüchten aus der Ehe in den Hobbykeller. Das brauche ich nicht«, sagt sie. Erstens, weil sie ihr Hobby zum Beruf gemacht hat, und zweitens, weil sie keinen Mann hat. Vielleicht ist sie deshalb immer so fröhlich, weil da keiner ist, der ihr ständig die Laune verdirbt. Sie hat den Rat ihres Vaters befolgt, der zu seinen Töchtern gesagt hatte: »Verdient euer Geld selbst und macht euch nicht abhängig von den Männern. Und dann denkt immer daran: der Mann eures Lebens könnte der Briefträger sein!« Der Mann in Anna Sigoras Leben allerdings war kein Briefträger, sondern ein »hochgebildeter Akademiker.« Aber er war nur vorübergehend der Mann in Frau Sigoras Leben. Und das scheint sie auch nicht sonderlich zu stören. »Ich war verheiratet und bin geschieden«, sagt sie. Wahrscheinlich hat sie auch ihm keine Träne nachgeweint. Denn Anna Sigora liebt nichts so sehr wie ihre Arbeit. Vielleicht noch diese große Wohnung am Görlitzer Park. Diese geräumige Wohnung, in der nicht viel mehr steht als Bett, Stuhl, Tisch »und ein riesiges Bücherregal.« Da ist Platz für Feste, Platz zum Essen und zum Kochen. Denn das liebt sie auch: das Kochen. Und wenn es etwas gibt, das sie so gut füllen kann wie Zähne, dann sind es ungarische Paprika. »Sie kochen phantastisch, Madame!«, hatte Gaetano Scognamiglio gesagt.

Manchmal lädt sie ihre vielen Freunde in die »herrschaftliche« Wohnung, vierzig oder achtzig Personen, und kocht dann für sie. »Wenn es mehr als sechzig sind, dann hole ich mir eine Hilfe. Sonst schaff ich das allein.« Wahrscheinlich ist es ein bißchen wie in der großen Villa am Donaudelta, wohin im Sommer Ärzte und Intellektuelle aus aller Welt kamen. Ihr Vater, der berühmte Radiologe, hatte sie eingeladen. Ein bißchen etwas von diesen glanzvollen Tagen läßt die Tochter am Görlitzer Park wieder aufleben, und auch bei Anna Sigora kommen Menschen aus aller Welt, kommen Engländer, Ungarn, Italiener und Franzosen. Es sind Zahnärzte, Journalisten oder Copyshopbesitzer. Auch Gaetano Scognamiglio war manchmal bei ihr eingeladen. »Kommen Sie endlich, Madame, und kochen Sie Ihre ungarischen Paprika bei mir!«, hatte er gerufen, als er sah, daß sein französisches Restaurant ihn ins Unglück stürzen würde.

Michael Hughes
Am 11. Januar hat sie ihn begraben. Sie hat vor ihren vielen Cds gestanden, um eine passende Musik auszusuchen, sie hat tagelang über die Gedenkrede nachgedacht, Indizien aus seinem Leben gesammelt, Freunde gesucht. Und eine Stelle aus Becketts »Warten auf Godot« lesen lassen. Und wieder sind ihr, als sie an der kleinen Urne stand, die übrigbleibt vom langen Leben, Tränen über ihre Wangen gelaufen. Ganz kleine nur. Aber dieses Mal lachte sie nicht.

Hans W. Korfmann


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