Kreuzberger Chronik
April 2006 - Ausgabe 76

Die Reportage

Die unendliche Geschichte vom Viktoriaquartier


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von Michael Unfried

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Die Stadt wächst noch immer. Sie wächst aber nicht mehr an ihren Enden, sondern in ihrer Mitte. Da rücken die Häuser immer dichter aneinander und wollen immer höher hinaus. Die Bauunternehmer nutzen jeden Quadratmeter. Das sahen die Bewohner Berlins, wo der Krieg viele attraktive Löcher in die Häuserreihen gerissen hatte, immer mit Mißtrauen. Und wenn sich dort, wo einst die Gleise der Eisenbahnen zum stillgelegten Anhalter oder zum Görlitzer Bahnhof führten, nach dem Krieg Wiesen auszubreiten begannen, dann waren diese Plätze in ihren Augen öffentliche Plätze.

Immer wieder kam es zu Diskussionen zwischen jenen, die bauen wollten, und jenen, die es verhindern wollten. Diskussionen zwischen Menschen und Bauunternehmern.
uch im Viktoriaquartier neben dem Kreuzberg wird die Luft allmählich dünner. Obwohl der Bezirk hier immer ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Kultur, Gewerbe und Immobilie, zwischen öffentlichem und privatem Raum anstrebte und dies den Käufern des Areals auch zur Auflage machte, konnte er nicht verhindern, daß aus dem nun bayrischen Boden Eigentums und Miethäuser wie die Pilze sprießen. Im Grunde nämlich kann der Bezirk dem Unternehmer, der die alte Schultheissbrauerei günstig von der in die finanzielle Enge geratenen Stadt erstand, keine Vorschriften machen. Es gibt lediglich Richtlinien bzgl. der Traufhöhe oder der Besiedlungsdichte, doch wieviele Quadratmeter Park, Platz und Sandkasten die Baywobau am Kreuzberg schaffen muß, das ist relativ frei interpretierbar.

Foto: Dieter Peters
Auch, was mit den alten Gebäuden der Brauerei geschieht, liegt eher in den Händen der Baywobau, als in denen der Denkmalschützer. »Zwar sieht der Denkmalschutz den neuen Eigentümer in der Verpflichtung«, und man hatte im Rathaus auch fest damit gerechnet, daß der bayrische Unternehmer die Baudenkmäler restauriert und eventuell Kulturraum schafft. Doch seit das Zugpferd der Berlinischen Galerie aus dem Konzept fiel, scheint die Verpflichtung für die Bayern nur mehr eine moralische zu sein.

Trotzdem sieht der Kreuzberger Baustadtrat Dr. Franz Schulz in der Entwicklung der letzten Jahre nicht nur Nachteile. Die Neubauten, die in der Nähe der Dudenstraße entstehen und quasi ein eigenes Viertel bilden sollten, werden nach den aktuellen Entwürfen um einiges niedriger und auch nicht in der einst geplanten Dichte gebaut. Und zwischen der Bartschen Promenade und der alten Maschinenhalle soll sogar ein regelrechter Platz angelegt werden. »Das ist mutig«, meint Dr. Franz Schulz, »und man könnte mich fragen, warum ich nicht überhaupt in Jubel ausbreche.« Aber es gibt zwei Punkte, die dem Baustadtrat nicht

behagen: Zum einen werden durch das neue Konzept mit Vorgärten und Loggien zwar Grünflächen geschaffen, aber keine öffentlichen oder zumindest öffentlich zugänglichen, sondern eben rein private. So »entsteht der Eindruck einer massiven Privatisierung«. Und das wäre, »zugespitzt formuliert, auch ein Schritt in Richtung Gettoisierung. Eine Befürchtung übrigens, die Gegner des Quartiers schon ganz zu Anfang formulierten.« Der zweite Punkt ist, daß das Quartier als ein sinnvolles Ganzes geplant war und nun in immer kleinere, autonome Einheiten und Strukturen zerfällt, bei denen die großen Gebäude auf dem Platz unberücksichtigt bleiben. Dr. Franz Schulz aber hat das Ganze noch nicht aus den Augen verloren.

Er sieht, daß die Baywobau zwar den alten Schmiedehof fertiggestellt hat, dessen Restaurierung noch von der Firma Realprojekt begonnen wurde, doch daß seitdem Stillstand herrscht in den alten Gemäuern. Die Anwohner der Dudenstraße schauen seit 6 Jahren auf Schuttberge, die sich hinter dem modernen Bürobau des bayrischen Hauptquartiers an der Methfesselstraße verbergen. »Hier tut sich nichts mehr«, sagt der rauchende Rentner auf dem Balkon und hebt die Schultern: »Erst hab ich mir jahrelang die Müllhalden nach dem Krieg ansehen müssen, und jetzt die Schuttberge einer Bauruine!«

Doch ungeachtet des Bauschutts auf den Brachen einerseits und zunehmender Enge auf der Seite des Parks auf der anderen Seite werben die Bayern im Internet noch mit dem Paradies am Kreuzberg. Auch auf dem großen Transparent an der Methfesselstraße entwerfen sie ein falsches Bild vom neuen Quartier auf dem alten Gelände. Denn von der Vision der Zeichner und Planer ist im Jahr 2006 nicht viel geblieben. Die Baywobau entscheidet stets kurzfristig, was wo wie gebaut wird, und richtet sich dabei nach Marktanalysen und Nachfrage. Vor dem Ostflügel des Tivoligebäudes, wo die Architekten einst noch einen kleinen Park mit vielen dunkelgrünen Bäumen eingezeichnet hatten, ist kaum noch Platz für Grün geblieben. Da stehen jetzt vier kleine Reihenhäuser in Weiß. Sie ähneln einander wie eineiige Vierlinge, lediglich in den Vorgärten  jeweils von zwei Meter hohen Zementwänden getrennt, um trotz »mediterraner Enge« die in Westeuropa so geschätzte Privatsphäre zu schützen  könnten die zukünftigen Mieter noch zwischen Rosen, Tulpen und Geranien entscheiden, und damit eine Spur von Individualität beweisen.

Auch vor dem Westflügel des Tivoligebäudes reihen sich fünf kleine Klone aneinander, doch die imposanteste Veränderung gegenüber den ursprünglichen Plänen sind die zweifarbigen Wohntürme, die im Lauf des Spätsommers unmittelbar unter dem alten Schinkeldenkmal so rasch in den Himmel gewachsen sind. Auf dem Transparent sehen die zwei Wohneinheiten am sogenannten Weinberg, einer aus Natursteinen gemauerten Terrasse, die sich vom Viktoriaquartier hinauf bis zum Denkmal ziehen soll, noch bescheiden aus. Jetzt stehen dort zwei vierstöckige Miethäuser mit ausgebauten Dachgeschossen, die in ihrer Höhe durchaus mit der Kreuzberger Freiheitsstatue konkurrieren. Die Baywobau warb schon beizeiten: »Unmittelbar am Südhang des Kreuzbergs, rund um einen neu angelegten Weinberg mit Zugang zum Viktoria Park, werden zur Zeit zwei moderne Torhäuser mit 14 attraktiven Eigentumswohnungen und zwölf Stadthäuser im Bauhausstil errichtet  das Park Quartier.« Inzwischen stehen die Klötze, und wo einst der Besucher am Fuß des Denkmals den Blick ungestört über die alte Brauerei und dann über die ganze Stadt hinweg nach Süden richten konnte, schieben sich nun die ziegelfarbig und weiß gestrichenen Wände einer konservativen bayrischen Gegenwartsarchitektur ins Bild.

So sind inzwischen mehrere miteinander verbundene oder dicht beieinanderstehende sogenannte Stadthäuser für mehrere Familien, Eigentumshäuschen mit kleinen Gärten vor der Tür und kleinere Miethäuser entstanden, von denen auf dem Plan meist noch keine Spur zu sehen war. Selbst Baustadtrat Dr. Schulz, der, nach den anfänglichen

Foto: Dieter Peters
Streitereien wegen des unakzeptablen Umgangs der Bayern mit den Mietern des neuen Quartiers, das Verhältnis zur Baywobau inzwischen als professionell und gut bezeichnet, kann sich bei dem Begriff der »mediterranen Enge«, mit dem die Firma ihre Heime potentiellen Mietern oder Käufern schmackhaft machen möchte, ein Grinsen nicht verkneifen. Den poetischen Begriff vom »Arabischen Hof« im alten Maschinenhaus hat der Baustadtrat allerdings mit einiger Sympathie aufgegriffen, und in der Tat erweist sich das Modell der zwei in die denkmalgeschützten Mauern integrierten Eigenheime als witzige und auch bewohnbare Lösung.

Denn das große Gebäude unmittelbar unterhalb des Denkmals eignete sich wegen der schießschartenähnlichen Fenster nicht zum Umbau in Wohnungen, da der Denkmalschutz eine Vergrößerung der Gucklöcher zu Fenstern verbot. Also verfielen die bayowarischen Architekten auf die Idee, das Maschinenhaus zu entkernen und unter einem Dach aus Glas zwei kleinere, zweistöckige Gebäude zu errichten. Dieses Konzept des »Arabischen Hofes«, in dem sich hinter hohen Mauern kleine Gebäude befinden, stößt auch bei potentiellen Käufern eines Eigenheimes am Kreuzberg auf Interesse, weshalb es wahrscheinlich ist, daß die architektonische Phantasie auch in die Tat umgesetzt, und nicht etwa wegen fehlender Rentabilität wieder zu den Akten gelegt wird.

Die Rentabilität nämlich ist stets das entscheidende Argument der Baywobau gegenüber der Stadt und ihren Ansprüchen. Denn egal, wozu sich der Käufer des Grundstücks auch verpflichtet hat: Sobald es zu teuer wird, ist er von den Verpflichtungen befreit. Das einzige, an das sich die Baywobau tatsächlich halten muß, ist der städtebauliche Vertrag. »Die Baywobau«, so der Baustadtrat Dr. Franz Schulz, »kann auch zum Sanieren der Altbauten nicht gezwungen werden.« Sie muß lediglich nachweisen, daß sie sich ernsthaft nach einer rentablen Nutzungsmöglichkeit der Altbauten umsieht. Und diesen Nachweis konnte sie bislang stets erbringen.

Wie ernst allerdings die Baywobau nach neuen Wegen zu den alten Bauten sucht, darüber gehen die Meinungen nicht nur im Rathaus auseinander. Es ist verdächtig, daß bislang alle Angebote seitens des Bezirks oder seitens der Privatunternehmer dankend abgelehnt wurden. Zwischennutzungskonzepte, wie zum Beispiel die Einrichtung einer Diskothek im dickwandigen Maschinenhaus, wurden ebenso mit Kopfschütteln bedacht wie der geplante Umbau zum Wellnesscenter, der daran scheiterte, daß mit der Berlinischen Galerie auch das geplante Hotel gestorben war. Das hätte zum Beispiel im alten Tivoligebäude einen phantastischen Standort. Verdächtig ist auch, daß die Baywobau offensichtlich keinen einzigen Mitarbeiter damit beauftragt hat, sich um eine profitable Nutzungsmöglichkeit der Altbauten zu kümmern. Lediglich im Internet protzt das Unternehmen ein bißchen mit dem »einst größten Saalgebäude Berlins«, das mit »seiner historischen Architektur und den großen, bis zu 9 Meter hohen Räumen (...) noch heute ein einzigartiges, unverwechselbares Ambiente« darstelle und mit seiner »Gesamtnutzfläche von fast 10.000 Quadratmetern noch immer »ideal für eine kulturelle oder gastronomische Nutzung geeignet« sei.

Sollte sich auf diese Annonce jedoch kein Käufer oder Mieter melden, dann wird das stattliche Baudenkmal unter der Freiheitsstatue wahrscheinlich weiter verfallen. Den Anblick, der an die letzte der vielen Brauereien erinnert, die sich einst am sandigen Kreuzberg angesiedelt, und ihn mit ihren Biergärten und Tanzlokalen zu einem der beliebtesten Berliner Ausflugsziele gemacht haben, wird es dann nur noch auf Fotografien geben. Denkmalschutz ist eben keine Denkmalpflege. Denkmalschutz bedeutet für den Unternehmer: Wir dürfen es nicht einreißen, also warten wir, bis es zusammenbricht. Damit wird die Restaurierung täglich kostspieliger, und damit sinkt auch die Rentabilität einer Sanierung mit jedem Kalendertag ein wenig mehr.

Foto: Dieter Peters
Womöglich ist das die Taktik der Baywobau, die schließlich kein soziales Unternehmen, sondern gewinnorientiert ist. Hier geht es nicht um sozialverträgliche Mieten, hier geht es um Eigenheime. Hier geht es nicht um Baudenkmäler, sondern um Grundstücke in bester Lage. Und den handelnden Politikern scheinen die Hände gebunden. In allen Parteien. Auf allen Ebenen. Zu groß sind die Gesetzeslücken, in denen sich Immobilienhändler breit machen können. Sie probieren es auf dem Teufelsberg mit Blick über die Stadt, an den Ufern der Havel oder der Spree, oder eben auf dem Kreuzberg mit dem Wasserfall. Immer möglichst nahe dran an den kleinen Inseln der sogenannten Naherholungsgebiete. Zum Ärger der alteingesessenen Anrainer und zum Wohl einiger gut zahlender neuer Mieter und Hauseigentümer.

Doch auch die sind nicht immer zufrieden. Schon der ewigen Bauarbeiten wegen. »Was soll denn hier noch alles hingebaut werden?«, fragt eine Mieterin, die nun schon seit drei Jahren auf der Baustelle wohnt. »Ohne Bauarbeiten keine Wohnungen!«, könnte die Baywobau mit einem gewissen Recht argumentieren. Die Sicht der Mieter aus dem Viktoriaquartier ist so einseitig wie die der Gegner des neuen Kiezes, von denen immer mehr kopfschüttelnd am Denkmal stehen und staunen. Um sich ein objektives Bild vom Geschehen machen zu können, wäre es notwendig gewesen, auch die andere Seite zu hören. Doch die andere Seite verhält sich still. Die Pressesprecherin der bayrischen Firma wollte, konnte oder durfte sich nicht äußern. »Wir haben schon so viel schlechte Presse gehabt hier in Berlin«, verriet um Verständnis werbend eine der Mitarbeiterinnen der Firma, »da sind wir natürlich ein bißchen vorsichtig geworden.«


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