Kreuzberger Chronik
April 2006 - Ausgabe 76

Luft und Kerr

Sex nach 8 im BKA


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von Michaela Prinzinger

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Wieder war es Luft gewesen, die den Vorschlag gemacht hatte, ins BKA zu gehen. Aber Kerr hatte sich schnell überreden lassen, er hatte sozusagen nicht eine Sekunde lang gezögert und sich unverzüglich bereit erklärt, die Karten zu zahlen, nachdem er das Bild der sich lasziv auf dem roten Sofa räkelnden Dame im Tip gesehen hatte. Denn Kerr war, naturgemäß sozusagen, empfänglich für weibliche Reize. Sogar dann noch, wenn den Showmastern kein besserer Titel als »Sex nach 8« einfiel. Aber Kerr war sozusagen ein heimlicher Fan von Irina. Er kannte Irina von Bentheims erotische Stimme, Herr Kerr war nämlich ein treuer Radio EinsHörer, jeden Freitagabend saß er vor dem Apparat und lauschte ihrer Stimme, wenn sie zwei Stunden lang »Sex nach Neun« moderierte. »Die Frau ist einfach wunderbar!«, raunte Kerr, und Luft sah ihn von der Seite her an. Und anfangs verschlug es Luft & Kerr auch gemeinsam glatt die Sprache. Was für ein Organ diese Frau hatte! »Also, was für ein Stimmchen, meine ich«, flüsterte Kerr zu Luft. Die Frau auf der Bühne konnte losschnattern und von Ficken und Blasen und Fotzen und Schwänzen erzählen, als handele es sich um Bonbons oder Mozart auf der Blockflöte. Sie besaß die Gabe der schamlosen Rede, und nicht umsonst hatte man diese deutschsprechende Blondine auserwählt, der nervenden amerikanischen SarahJessica Parker aus der nicht minder nervenden Serie »Sex and the City« ihre »wundervolle Stimme« zu leihen, wie Kerr schon auf dem Weg ins BKA immer wieder betont hatte. Während Luft ihn von der Seite her taxierte. Und später, im Fahrstuhl, konnte Kerr es nicht mehr erwarten, daß der schleichende Fahrstuhl den fünften Stock erreichte, so groß war seine sexuelle Vorfreude. Zweimal fragte er Luft, ob sich denn der Fahrstuhl überhaupt noch bewege, oder ob sie nicht vielleicht steckengeblieben seien, das Programm beginne doch gleich. Und dann blieb Luft & Kerr tatsächlich die Luft weg. Luft vor Freude, Kerr allerdings vor Ärger. »Ich meine«, sagte Kerr in der Pause zu Luft, »daß es um Sex gehen würde, war mir ja klar. Aber daß es so massiv um Sex gehen würde, daß es eine Stunde lang ohne auch nur eine einzige Unterbrechung nur um Sex gehen würde, ich meine ...«, sagte Kerr und sah Luft etwas unsicher von der Seite an, »ich meine, findest Du nicht, daß das zu viel ist, eine Stunde lang ...?« »Das kann nie genug sein«, antwortete Kerrs weibliche Begleitung und sah so weit an ihm vorbei, als wäre er Luft für sie. Man hätte glauben können, Luft & Kerr wären zwei einsame, zufällig nebeneinanderstehende Individuen, und nicht das unzertrennliche Theaterkritikerpaar der Kreuzberger Chronik. »Ich meine, jetzt stell Dir doch mal vor, sie hätte nicht über Sex gesprochen. Wie langweilig es gewesen wäre. Das hätte überhaupt keinen Witz.« »Stimmt«, sagte Luft. »Stimmt genau!« »Du tust ja, als ginge es im Leben nur immer um das eine!«, sagte Kerr. »Ich tue nicht so. Es ist so.« »Ich meine, die braucht doch nur Ficken oder Fotze oder Arsch zu sagen, und schon gackern die. Das ist mir zu blöd. Ich gehe.« »Du bleibst«, sagte Luft und zog ihn zurück in den Saal, wo Frau von Bentheim gerade darüber philosophierte, wie furchtbar unerotisch doch das Wort »Vagina« klinge, ganz im Gegensatz zu Fötzchen, Möse, Muschi & Kerr beschloß, zu schlafen, und ließ die Lider sinken, da plötzlich stand Frau von Bentheim leibhaftig unmittelbar vor ihm und fragte: »Und, wie sagen Sie dazu?«  »Ich weiß nicht, ich habe lange keinen Sex mehr gehabt!«, hörte sich Michael Kerr sagen, und endlich lachte, zum ersten Mal, der ganze Saal.


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