Kreuzberger Chronik
Oktober 2005 - Ausgabe 71

Die Reportage

An der Mauer


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von Hans W. Korfmann

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Hinter dem Mariannenplatz, wo sich jedes Jahr zum 1. Mai Polizei und Kreuzberger Demonstranten ihr Stelldichein geben, steht nur noch die St. Thomas-Kirche. Dahinter endete einst die westliche Welt. Eine winzige Grünfläche noch, ein spitzwinkliges Dreieck, eingeschnitten von zwei aufeinander zulaufenden Straßen, und dann kam die Mauer. Das kleine Stückchen Erde zwischen Kirche und Mauer war ein Niemandsland, um das sich niemand kümmerte. Die aus dem Osten nicht, weil es ihnen zu umständlich gewesen war, den spitzen 500-Quadratmeterzipfel ihres Territoriums mit der Mauer einzufrieden. Die aus dem Westen nicht, weil es noch zum Osten gehörte  auch wenn es diesseits der Mauer lag. So blieb das Stückchen DDR im Westen jahrelang ungenutzt.

Bis Osman Kalin kam und just an der Mauer seinen friedlichen Kohl pflanzte. Das war vor 20 Jahren. Vom Fenster seiner Wohnung aus sah er das Land vor seinem Haus unnötig brachliegen. »Wem gehört dieses Land?«, fragte der Anatole eines Tages seine Nachbarn. »Niemandem!«, antwortete man. Also machte er sich an die Arbeit.

Zuerst waren es nur ein paar Quadratmeter, die er von Müll und Unrat befreite, den die Anwohner auf dem herrenlosen Grundstück deponierten. Eine unauffällige Ecke im Schutz der Mauer. Aber nach und nacheroberte er den gesamten Osten im Westen, nach und nach wuchs ein Zäunchen um den Garten drumherum, und eines Tages stand in der Mitte des Gartens ein Gartenhäuschen. Da öffnete sich in der Köpenicker
Straße die eiserne Tür im Eisernen Vorhang, zwei Vertreter des Grenzregiments Nummer 33 machten dem Bauer an der Mauer ihre Aufwartung. »Zwei Militärs mit Gewehr kamen und fragten, was ich da mache. Und wem das Land gehört. Ich habe gesagt: Mir! Sie haben gesagt: Gehört nicht dir, gehört der DDR! Ich habe gesagt, geht nicht, ich schon so lange hier.« Die Grenzer resignierten vor der starrköpfigen Weltanschauung des Osman Kalin und zogen heimwärts. Der Exot mit dem Betkäppchen und der Harke in der Hand verstand ihre Sprache nicht.

Zwei Wochen später kamen sie dennoch zurück. »Sie haben gesagt: In Ordnung! Machst du Garten ...« 

Foto: Dieter Peters
Also pflanzte er eifrig weiter  Jahr für Jahr, unschuldige Kürbisse, Bohnen, den genügsamen Kohl, Sonnenblumen &  und alles gedieh ganz wunderbar im Schutz des Grenzwalls, auf den von morgens früh bis abends spät die Sonne schien. Am besten wuchsen die Sonnenblumen, sie erreichten Höhen wie daheim in Anatolien. Als sich die Blumen mit den schmackhaften Samen anschickten, über die Mauer zu klettern, wurde es den Vopos jedoch zu bunt: Die Blumen wurden geköpft. Die Polizei bestand auf freie Sicht!

Alles in allem aber hielten Gott und seine Vertreter aus der Thomas-Gemeinde all die Jahre schützend die Hand über das Stückchen Erde zwischen den zwei Welten. Bis die Mauer fiel und das Land plötzlich einen neuen Herren hatte: den Bezirk Mitte. Doch während andere Grund- und Bodenbesitzer in Ost und West nun Besitzansprüche geltend machten, aus- oder wieder einziehen mußten oder konnten, blieb am Bethaniendamm alles, wie es war. Die neuen Besitzer der winzigen Verkehrsinsel mit dem Schrebergarten beklagten zwar die »illegale Nutzung« und beauftragten ein Planungsbüro mit einem Entwurf für das grüne Dreieck, welches daraufhin drei Bäume auf ein Blatt Papier zeichnete. Doch am Ende verzichteten sie auf ihr Land. Zwei aus dem Westen, Pfarrer Müller von der Thomas-Kirche und der Kreuzberger Bürgermeister Schulz, behaupteten, daß das Gebiet »mental doch längst zu Kreuzberg« gehöre. Und Osman Kalin ackerte weiter.

Foto: Dieter Peters
So steht der Kohl noch heute an jenem Platz, an dem er sich so wohl fühlt. Ein Garten Eden ist aus dem Niemandsland noch immer nicht geworden, doch eine grüne Oase allemal. Ein exotischer Schrebergarten mit Birnen-, Pflaumen- und sogar einem Aprikosenbaum, mit mannshohen Bohnen, Tomaten und über den Zaun rankenden Zucchinis. Auch das kleine Häuschen, das sich der tapfere Anatole aus Sperrholzplatten und ausgedienten Baubalken auf dem gottgegebenen Territorium zusammenrecycelte, ist kein Palast geworden, sondern eher eine Langstrumpfsche Villa Kunterbunt. Nichts an dem waghalsigen Konstrukt ist im rechten Winkel. Aus der hölzernen Wohnzimmerwand im Erdgeschoß wächst ein Baum, Wein umrankt und hält das zweistöckige Gebäude zusammen, ein schiefes Ofenrohr windet sich wie eine Bauchtänzerin aus dem Dach, und das Geländer des winzigen Balkons im ersten Stock dient eher der Zierde als dem Schutz vor einem ohnehin kaum zwei Meter tiefen Fall. Mit den gepflegten Gartenlauben der Berliner Schrebergärtner hat das Haus mit der selbstgemalten und selbsterdachten Postanschrift am »Bethaniendamm Nr. 0, Berlin 10997«, die der alternative Häuserbauer kürzlich allerdings durch »Baumhaus an der Mauer« ersetzte, nichts zu tun.

Osman Kalin und Pfarrer Müller aber sind gute Freunde. Der Pfarrer hat eben ein Herz für die Armen. Vor allem, wenn sie einmal so fleißig waren wie Kalin. Bald achtzig Jahre ist er alt, er fuhr zur See, er war »am Rhein, in Mannheim«, das kennt er gut, da hat er »viel, viel Jahre gearbeitet!« Viel Rente aber ist es nicht, die Kalin nach den vielen Jahren bekommt. Deshalb trinkt der türkische Rentner seinen Kaffee morgens in der Kirche, und er nimmt auch schon mal ein paar Kiwis oder eine Ananas vom Christen an, die in seinem exotischen Garten einfach nicht heimisch werden wollen. Auch das Wasser für seine Pflanzungen bekommt Kalin vom Pfarrer, und manchmal führt er abends seine Frau in die Kirche, um sich mit ihr und anderen Gemeindemitgliedern etwa den Dokumentarfilm »Die sieben Kinder Jerusalem« anzusehen. Scheinbar herrscht Frieden auf Erden.

Doch die Idylle trügt. Schon zweimal hat man dem Einwanderer den Unterschlupf im Grünen angezündet, 1991 mit Erfolg: Die komplette Laube landete in einem Container, den die St. Thomas-Kirche dem Gärtner bezahlte, um endlich die verkohlten Überreste zu entfernen. Und in der Sylvesternacht vor zwei Jahren war es der Pfarrer persönlich, der im gerade begonnenen Jahr aus der Kirche stürmte und das Häuschen seines osmanischen Schäfchens vor den Flammen rettete.

Und auch mit seinem Nachbarn Mustafa Akyol hatte Kalin so seinen Ärger. Der Nachbar fragte eines Tages um ein Stück des fruchtbaren Ackerlandes an, und eine Zeitlang ackerten die beiden Landsmänner in friedlicher Koexistenz. Dann aber sollen die Zwiebeln des einen oder anderen die imaginäre Grenze im gemeinschaftlichen Garten überschritten haben. Beide Bauern machten Besitzansprüche geltend, und da es keinen Kadi gab, der Recht sprechen konnte auf dem Niemandsland, soll es zu einer filmreifen Schlägerei gekommen sein zwischen dem alten Kalin mit seinem Rauschebart und dem adrett gekleideten Oberhaupt der Familie Akyol. Ob Kalin eine Gegenleistung oder gar Miete von seinem Nachbarn verlangt hat, darüber herrscht Schweigen am Grünen Dreieck. Inzwischen jedenfalls trennt ein Maschendraht die beiden Parzellen eines Landes, das im Grunde weder dem einen noch dem anderen gehört, in einen Ost- und einen Westteil!

Und wirklich: Während die Hütte des alten Osman Kalin schief in der Landschaft steht, gleicht die des Nachbarn einer Fertiglaube von Ikea, mit Gardinen vor den gläsernen Fensterscheiben und einem Stück gestriegeltem Rasen davor. Seine Pantoffeln stehen akkurat neben der Tür, das Wasser für die Pflanzen sammelt er in Badewannen und Wasserflaschen, nur die Gartenzwerge zwischen den Blumen fehlen. Osman Kalin aber fährt noch immer mit seinem Leiterwagen zum Markt am Maybachufer, um Süßkartoffeln oder Zwiebeln zu verkaufen. Für Osman Kalin ist der Garten noch immer »ein Stück Anatolien in Berlin!«

Und nicht nur für ihn. Längst steht das exotische Dreieck des Langbärtigen als »Das Gecekondu von Kreuzberg« in jedem besseren Reiseführer. Gecekondus waren die Hütten der Nomaden und später die Slums am Rand großer Städte. Es galt ein ungeschriebenes Gesetz: Wer sich auf einem Land, das niemandem gehörte, über Nacht ein Dach über den Kopf zimmerte, durfte nicht vertrieben werden. Osman Kalin hat seine Hütte nicht über Nacht gebaut. Er hat sich Zeit gelassen. Zwanzig Jahre. Dennoch vertrieb ihn niemand. Auch nicht in einem Land, in dem auf jedem Quadratmeter Berge von Akten lasten. Doch Kalin weiß: Hier gelten andere Gesetze als in Anatolien. Er weiß, er ackert auf unsicherem Boden.

Und als im Juli des Jahres 2004 plötzlich die Bezirksbürgermeisterin von Kreuzberg ihren Besuch ankündigte, strich der alte Kalin nachdenklich über seinen langen weißen Bart. Denn längst war ihm zu Ohren gekommen, daß sein geliebtes und umkämpftes Land einen neuen Besitzer hatte. 15 Jahre nach dem Fall der Mauer war es zum Grundstückstausch zwischen dem Ost- und dem Westbezirk gekommen. Das grüne Dreieck gehörte nicht mehr nur mental, sondern tatsächlich zu Kreuzberg. Das kleine Dreieck der Deutschen Demokratischen Republik war endlich an den Westen gefallen.

Kalin, der alte Nomade, verzog sich vorsichtshalber zum Beten in die Moschee. Seine Frau mußte den Staatsbesuch empfangen. Dabei kamen die Kreuzberger Offiziellen mit wehenden weißen Fahnen angefahren. Als Kalin endlich grinsend auftauchte, hatte man ihm die frohe Botschaft schon überbracht. Freudestrahlend reichte er der Bürgermeisterin die Hand und lud zum Tee. Er hatte das quasi offizielle Recht einer »illegalen Sondernutzung« erhalten.




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